„Erst der Mensch und dann die Geschichte“

„Niemand in Bhedwal, dem Dörfchen im indischen Pandschab, konnte erklären, was diesen Jungen nach Deutschland getrieben hatte. Zurück bekamen sie ihn in einer Holzkiste.“

Mit diesen Worten beginnt die Reportage von Nicol Lubi’c – zwei Bilder dazu von Andreas Herzau sind oben abgedruckt. „Nahezu einstimmig vergab die Jury den Hansel-Mieth-Preis 1999 an Nicol Lubi’c und Andreas Herzau für ihre ergreifende Geschichte über einen jungen Mann aus einem Dörfchen im indischen Pandschab, der als Abschiebehäftling in einem deutschen Gefängnis Selbstmord beging“, beschreibt die Agentur Zeitenspiegel die Preisträger-Story. Bei der Preisverleihung bedankte sich Nicol Lubi’c mit der im Folgenden abgedruckten Rede über „Geschichten, die einfach geschrieben werden müssen, weil sie so wichtig sind“.

Mit diesen Worten beginnt die Reportage von Nicol Lubi’c – zwei Bilder dazu von Andreas Herzau sind oben abgedruckt. „Nahezu einstimmig vergab die Jury den Hansel-Mieth-Preis 1999 an Nicol Lubi’c und Andreas Herzau für ihre ergreifende Geschichte über einen jungen Mann aus einem Dörfchen im indischen Pandschab, der als Abschiebehäftling in einem deutschen Gefängnis Selbstmord beging“, beschreibt die Agentur Zeitenspiegel die Preisträger-Story. Bei der Preisverleihung bedankte sich Nicol Lubi’c mit der im Folgenden abgedruckten Rede über „Geschichten, die einfach geschrieben werden müssen, weil sie so wichtig sind“.

Ich freue mich über diesen Preis, vor allem aus zwei Gründen. Zum einen, weil dieser Preis dem Leben einer Frau gewidmet ist, die mich, glaube ich, hätte ich sie jemals kennen gelernt, wirklich beeindruckt hätte. Ich habe über Hansel Mieth gelesen. Und vor allem eine Anekdote ist mir im Kopf geblieben: Da sollte sie für das amerikanische Life-Magazin eine kranke, schwangere Frau portraitieren. Aber statt diese Frau sofort zu fotografieren, wie es wahrscheinlich die meisten getan hätten, hat Hansel Mieth sie erst ins Krankenhaus geschafft, ihr Haus aufgeräumt und für ihre Kinder gekocht. Und zum Schluss hat sie Fotos gemacht. Bei ihr kam erst der Mensch und dann die Geschichte. Und das macht sie so sympathisch. Es gibt einfach Situationen, in denen ein Journalist raus muss aus seiner vermeintlich neutralen oder objektiven Rolle. Ich habe diese Erfahrung in Indien gemacht. Wir standen am Flughafen in Delhi, es war spät abends. Die Verwandten von Gurvinder waren aus ihrem Dorf gekommen, um den Sarg mit der Leiche abzuholen. Und dann stellte sich heraus, dass der indische Zoll die Leiche nicht frei geben wollte, weil der Tote keinen Pass hatte. Dann hieß es sogar, der Onkel müsse mit der Leiche nach Deutschland fliegen, um dort die Identität des Toten zu klären. In dieser Situation waren die Verwandten völlig hilflos, und ich habe mich als Journalist, als Beobachter, unwohl gefühlt. Unser indischer Begleiter hat dann die ganze Nacht verhandelt, wir haben vom Flughafen mit der indischen Botschaft in Deutschland telefoniert, bis nach etwa zehn Stunden die Leiche frei kam. Die Verwandten hätten das alleine nie geschafft, sie konnten kein Englisch, hatten auch nicht das Geld für die vielen Telefonate. Wir haben in dieser Situation eingegriffen und den Ausgang der Geschichte beeinflusst, aber ich finde das war richtig. Und schließlich hat es Hansel Mieth ja auch so gemacht.

Ich freue mich auch über den Preis, weil er mich in einem wichtigen Punkt bestätigt hat. Als ich anfing, mit zwanzig, wollte ich Journalist werden, weil ich die Welt verändern wollte. Dann machte ich aber die Erfahrung, dass die meisten Geschichten, die ich machte, eher belanglos waren. Einmal bin ich durch alle Klos der Bremer Uni gelaufen, um zu schauen, ob es Unterschiede gibt zwischen den Klosprüchen auf Männer- und Frauentoiletten. Und das war so ein Moment, in dem ich mich nach dem Sinn im Journalismus fragte. Und ich kam zu dem Schluss, dass es vielleicht das Ziel eines Journalisten ist, Menschen zu unterhalten, ihnen fünf oder zehn Minuten gute Laune zu machen. Aber glücklicherweise, und das weiß ich heute, ist das nicht so. Im Dezember 1998 fragte mich die Redaktion von Spiegel Spezial, ob ich mir vorstellen könne, eine Geschichte zu schreiben über einen 16jährigen Inder, der sich in Abschiebehaft erhängt hat. Ich habe im Laufe der Recherchen gemerkt, dass Journalisten eine Aufgabe haben, eine Pflicht sogar, dass es Geschichten gibt, die einfach geschrieben werden müssen, weil sie so wichtig sind. Und dass diese Geschichte jetzt auch prämiert wird, bestätigt mich in dieser Auffassung: Es kann nicht nur um lustige Geschichten gehen, um Film und Popstars oder um Verlautbarungen von Politikern oder um Pamela Andersons Busen. Solange es Menschen gibt wie Gurvinder, die Tausende von Kilometern nach Deutschland reisen, die ihre eigene Familie beklauen, um sich das leisten zu können, mit einem Traum im Kopf, mit der Hoffnung, ein bisschen von unserem Wohlstand abzubekommen. Und die dann merken, dass sie hier bei uns niemand will. Dass sie statt eine Chance zu bekommen, im Gefängnis landen. Und nicht selten zu Unrecht, wie sich bei Gurvinder leider erst herausgestellt hat, als er schon tot war. Ich finde, es ist die Pflicht eines Journalisten, auch über diese Menschen zu berichten – immer wieder. Auch weil es erschreckend ist, wie wir alle uns daran gewöhnt haben. Bietet man einer Redaktion eine Geschichte über einen abgeschobenen Asylbewerber an, ist die Reaktion in der Regel: Nicht schon wieder, hatten wir doch schon so oft. So alltäglich ist es, und dagegen, finde ich, muss man ankämpfen.

Mir persönlich hat die Geschichte von Gurvinder auch gezeigt, dass man seine Verantwortung nicht einfach guten Gewissens dem Staat überlassen kann. Denn der macht, wie man sieht, auch Fehler, für die er sich nicht entschuldigt. Die deutschen Behörden haben nie Kontakt zur Familie von Gurvinder aufgenommen, niemals ein Wort des Beileids übermittelt, selbst die Kosten für die Überführung der Leiche hat die indische Gemeinde in Halle gezahlt. Trotzdem hat man uns, die wir aus Deutschland kamen, in Bhedwal, Gurvinders Heimatdorf, freundlich aufgenommen. Sie haben uns gezeigt, was Gastfreundschaft bedeutet. Uns wurde Tee angeboten, man hat uns zum Essen und Übernachten eingeladen. Und einer der alten Männer sagte: Ich verstehe nicht, warum Gurvinder bei euch ins Gefängnis musste. Wenn zu uns jemand ins Dorf kommt, der kann so lange bleiben wie er möchte, er ist immer willkommen. Und das Schlimme war, dass ich ihm darauf nicht einmal eine Antwort geben konnte. Weil die Gesetze in Deutschland so sind, sagte ich ihm, und weiß im nachhinein, dass es eigentlich eine schlechte und ziemlich beschämende Antwort war. Weil es so wirkte, als wären unsere Ausländergesetze ein Naturgesetz. Aber es sind Gesetze, die Menschen gemacht haben, die wir alle oder die meisten von uns gewählt haben. Und das finde ich, darf man nicht vergessen. Und manchmal wird man daran erinnert, in Situationen, in denen man selbst merkt, was für eine schwache Ausrede es ist, wenn man sagt, so sind unsere Gesetze.


  • Nicol Lubi’c, 1971 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Schweden, Griechenland, Russland, seit 1998 in Deutschland. Absolvierte die Henri-Nannen-Schule und war Redakteur des SZ-Jugendmagazins „jetzt“. Lebt seit Oktober 1999 als freier Autor in Berlin. Andreas Herzau wird hier vorgestellt.
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