Dokville in Stuttgart: Eine Art Bilanz und ein Blick in die Zukunft
„Dokumentarfilme zu produzieren, ist ein Luxus“ schilderte der junge Produzent Jochen Laube in einer Diskussionsrunde seine schmerzliche Erfahrung. Er hatte in der Filmakademie Ludwigsburg studiert, wo die Dokfilmklassen einen sehr guten Ruf haben und es mit der Programmierung „Junger Dokumentarfilm“ im SWR auch eine Öffnung zu den Sendern gibt. Aber dann musste er feststellen: als Produzent auf dem Markt überleben kann er mit Dokumentarfilm nicht.
Seit 20 Jahren arbeitet in Stuttgart das „Haus des Dokumentarfilms“, finanziell und personell dem SWR eng verbunden, und wollte auf dem inzwischen fest eingeführten Branchentreff „Dokville“ eine Art Bilanz ziehen und in die Zukunft schauen. Es hat sich im Lauf der Jahre viel verändert. Die Budgets sind gesunken und sinken immer noch. Die Technik, Filme herzustellen ist billiger und perfekter geworden. In den Sendern ist die Macht der Redakteure gestiegen, das Durchsetzungsvermögen der Autoren gesunken: „Heute zählen die Themen, nicht die Autoren“, so der Berliner Produzent Heiner Deckert.
Eine drastische Lagebeschreibung lieferte der Filmemacher Andres Veiel. Seiner Ansicht nach steht dem Dokumentarfilm die große Krise erst noch bevor. Aus den Filmhochschulen des Landes kämen viele sehr gut ausgebildete Filmemacher, aber: „Dieses Land leistet es sich, seine besten Talente auf dem Gebiet des künstlerischen Dokumentarfilms zunächst aufzubauen, um sie dann systematisch verkümmern zu lassen“. Es gebe noch eine umfangreiche und vielfältige Produktion, doch bei näherem Hinsehen werde „offensichtlich, wie wenige Filme es gerade unter jungen Dokumentarfilmern gibt, die formal oder inhaltlich ins Risiko gehen, Neuland betreten, ihre Geschichten filmisch anders, unerwartet erzählen.“ Niemand könne sich unter den schlechten Produktionsbedingungen ausgiebige Recherche leisten und Filme drehen, die sich „mit den eigentlichen Krisen und den Machtverhältnissen des Landes auseinandersetzen“.
Code of Conduct für Sender
Wie werden Dokumentarfilme finanziert, wenn die Sender zwar immer mehr Ausspielkanäle füttern müssen, aber dafür nicht mehr Geld investieren? Inzwischen verhandeln die Interessenvertreter der Dokumentaristen, die AG Dok und die öffentlich-rechtlichen Sender miteinander. Es geht zum einen um einen gewissen Benimmcode. Er soll regeln, dass die Redaktionen auf eingereichte Projekte wenigstens antworten und im positiven Fall auch in angemessener Zeit Verträge vorlegen. Im Juni soll ein „code of conduct“ vorgelegt werden.
Vor allem aber geht es um Fragen der Finanzierung und Kalkulation. Fernsehsender beteiligen sich kaum noch mit vollem Einsatz an der Produktion von Filmen. Zwischen 20 und 70 Prozent ist derzeit üblich. Gleichwohl möchten die Sender so viele Rechte wie möglich haben. Produzenten wie Wolfgang Bergmann etwa monieren, dass die Sender sich derzeit alle nur möglichen Online-Rechte im Vorgriff auf die Zukunft sichern wollen. Andererseits fühlen sich die Sender blockiert durch die langen Fristen der Kinoauswertung. Andere Finanzierungswege, etwa Crowdfunding über Online-Communities und Fangruppen werden nur für eine kleine Zahl themenzentrierter Filme gangbar sein.
Wie werden die nächsten zwanzig Jahre für den Dokumentarfilm ausfallen? Einige Tendenzen sind absehbar. Die Sender werden ihr Ausstrahlungsmonopol verlieren, sind jetzt schon dabei. Die Linearität des Programms wird sich auflösen, viele Zuschauer werden selbst über Zeit und Art ihrer Begegnung mit dem Dokumentarfilm entscheiden. Dazu müssen sie ihn dann erst in der Programmfülle finden. Das ist schon heute ein Problem, zumal die Sender die Filme zwar senden, wenn auch spät, aber nicht mehr für öffentliche Wahrnehmung sorgen.
Andres Veiel fand dazu einen schönen Begriff, mit dem sich arbeiten ließe und den man aus dem Museum kennt: den Kurator. Kurator ist, wer für die Kunst die Sorge trägt, sich um sie Sorgen macht. Der „nicht nur das verbreitet, was ohnehin existiert, sondern auswählt, fördert, Akzente setzt und damit nicht nur abgebildete Phänomene verbreitet, sondern Kontexte herstellt, Gewordenheiten sichtbar macht, indem hinter den Oberflächenreiz der Dinge geschaut, ihre Geschichtlichkeit herausgearbeitet wird.“ Eine große Aufgabe, die Veiel da den Sendern zuweist: „ Das Kuratieren von Filmen, die sich vom Strom der Bilderflut abheben, die ihn strukturieren, verdichten, vertiefen – das wird eine der Hauptaufgaben des Fernsehens sein, will es sich nicht selbst abschaffen“.
Dazu müsse, so Veiel, auf die Sender auch politischer Druck ausgeübt werden. Die gegenwärtig anhebende Debatte um den Kultur- und Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Sender sieht Veiel hoffnungsvoll. „Das Genre wird in der Zukunft für ein demokratisches Gemeinwesen notwendiger denn je sein – als kulturelles Gedächtnis, als Instrumentarium, eine komplexen Wirklichkeit neu und in einem anderen Kontext zu betrachten, als Rastplatz der Reflektion – und damit als Sauerstoff einer Gesellschaft, die sich angesichts eines Terrors der informativen Verfügbarkeit immer mehr das Innehalten, die Reflektion, die Selbstvergewisserung leisten MUSS.“