Filmtipp: „Cahier africain“ von Heidi Specogna

Bildausschnitt aus "Cahier Africain" von Heidi Specogna
Bild: déjà-vu film

Ein Schulheft, kariert, jede Seite sorgfältig mit einem Strich quer geteilt und in jedem der so entstehenden Quadrate die Geschichte eines Menschen. Name, Alter, ein Bild. Kleine Notiz über das Schicksal. Sieht aus wie ein harmloses Erinnerungsheftchen, aber es erinnert an ein Verbrechen. 2002 drangen kongolesische Söldner in die Zentralafrikanische Republik ein, mordeten, plünderten und vergewaltigten. Als sie wieder verschwunden waren, taten sich die Opfer zusammen und rekonstruierten, was geschehen war, in diesem Schulheft. Sie wollten damit die Verbrechen beweisen.

„Cahier africain“, afrikanisches Heft, nennt die Schweizer Dokumentaristin Heidi Specogna ihren Film über dieses Verbrechen. Es ist nicht ihr erster Film zum Thema. In „Carte Blanche“ (2011) erzählte sie vom Prozess, der dem ehemaligen kongolesischen Vize-Präsidenten Jean-Pierre Bemba am internationalen Gerichtshof in Den Haag gemacht wurde. Er hatte seinen Söldnern „Carte Blanche“, also einen Freifahrtschein für ihre Verbrechen, gegeben. Und Specogna erzählte die Geschichten der Opfer.

Diese Geschichten werden nun weitererzählt. Der Film verfolgt das Leben zweier junger Frauen. Arlette, die als Mädchen damals schwer verletzt worden war und in Deutschland operiert werden konnte. Und Amzina, die auch in diesem „cahier africain“ steht. Sie wurde von drei Männern vergewaltigt, davon ist ihr eine Tochter geblieben, die sie immer daran erinnert und mit der sie lebt; sie weiß nicht, wie sie ihr einmal ihre Herkunft erklären soll.

Arlette und Amzina leben in PK 12, einem Armenviertel der Hauptstadt Bangui. Amzina betreibt einen kleinen Laden, Arlette geht zur Schule. Der Film zeigt ärmlichen Alltag. Aber es herrscht keine Ruhe. Muslimische Milizen, die Sekala, marodieren durchs Land. Zwischendurch sieht man einen Staatsakt, eine neue Präsidentin wird gewählt, durch die dunklen Scheiben ihrer Limousine sieht sie nicht, was draußen vor sich geht. Militär ist im Land, eine große UN-Truppe und auch französische Militärs, die aber nicht eingreifen.

Heidi Specogna selbst hat einen Guide, einen Experten vom Den Haager Gerichtshof, der Beweise für Verbrechen sammelt. Die Autorin hatte in ihrem Film zeigen wollen, wie die Frauen langsam wieder Fuß fassen. Aber da zieht schon die nächste Miliz auf, eine christliche diesmal, genauso marodierend. In Bangui bricht die öffentliche Ordnung zusammen, die Bevölkerung verlässt in wilder Flucht die Stadt.

Das ist eine der vielen afrikanischen Fluchten, von denen wir im Normalfall gar nichts hören würden, gäbe es solche Filme nicht. Von dieser erzählt der Film in den ungemein dichten Bildern von Johann Feindt, und zwar in einer Dramatik und aus einer Nähe, wie man es selten gesehen hat. Den beiden Frauen gelingt die Flucht in den Tschad und wieder fängt Amzina dort an, sich und ihrer Tochter ein neues Leben aufzubauen, von ganz unten. „Ein neuer Tisch“ heißt dieses dritte Kapitel. Aus diesem Tisch, auf dem sie kärgliche Ware ausbreitet, soll einmal ein Laden werden und ein festes Haus, das der Regenzeit standhält. Was für eine Kraft, was für eine Entschlossenheit.

„Cahier africain“ ist ein Film, der einen so schnell nicht loslässt. Nicht nur, weil er einen Konflikt behandelt, von dem wir hier wenig hören, sondern weil er seine Geschichten aus einer empathischen Nähe erzählt, unprätentiös, genau beobachtend, staunend auch. Kein Kommentar bevormundet die Zuschauer, wir selbst müssen uns zurechtfinden in diesem Wechselspiel aus Alltag und Krieg. Immer wieder zeigt die Autorin uns Szenen und Geschichten, die im Gedächtnis bleiben. Ein Beispiel von vielen. Einmal, mitten im Fluchtgeschehen, taucht ein alter Mann vor der Kamera auf, zerlumpt sieht er aus und alt; er kennt offenbar den Mann hinter der Kamera. Auch sein Bild steht in dem „Cahier africain“, auch er ist 2002 vergewaltigt worden. Jetzt lebt er im Wald und weiß nicht, wie er und all die anderen herauskommen sollen aus dem Kreislauf der Gewalt. Eine kleine Figur, eine kurze Szene nur, aber eine mit archaischer Wucht.

„Cahier africain“ ist einer der herausragenden Dokumentarfilme der letzten Monate, ein Film von großer Allgemeingültigkeit und erzählerischer Kraft. Einer dieser unentbehrlichen Filme, die uns aus den tagesaktuellen, hilflos machenden Kriegsberichten des Fernsehens herausführen. Es ist etwas erreicht worden, aber seine Geschichte ist ja noch lange nicht zu Ende. Jean-Pierre Bemba ist im März 2016 in Den Haag verurteilt worden, seit diesem Prozess ist Vergewaltigung als Kriegsverbrechen anerkannt. Heidi Specogna berichtet von Schätzungen, wonach allein im zentralafrikanischen Raum in den letzten Jahren bei kriegerischen Auseinandersetzungen über 100.000 Frauen geschändet wurden

Und das „Cahier africain“?  – das liegt im Tresor des Internationalen Gerichtshofs als Beweisstück. „Das schmale Heft wartet immer noch auf seinen Auftritt“ heißt es im Film, „der wird groß sein. Oder vergessen werden“.

Der Film ist Mitte November in einigen Kinos angelaufen, aktuelle Kino-Aufführungstermine finden sich unter  http://www.dejavu-film.de/index.php?article_id=56.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Nicaraguas bedrohte Medien

Die Diktatur des nicaraguanischen Präsidentenpaars Daniel Ortega und Rocio Murillo hat in den letzten Jahren immer mehr Journalist*innen ins Exil getrieben. Unter erschwerten Bedingungen berichten Menschen wie Lucía Pineda vom Nachrichtenkanal "100% Noticias" oder Wendy Quintero nun aus dem Ausland. Für diese Arbeit nehmen sie stellvertretend für viele andere am 26. November 2024 den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung entgegen.
mehr »

Österreich: Gefahr für die Pressefreiheit

In Österreich ist die extrem rechte FPÖ bei den Nationalratswahlen stärkste Kraft geworden. Noch ist keine zukünftige Koalition etabliert. Luis Paulitsch erklärt im Interview, welche Entwicklungen in der österreichischen Medienlandschaft zu erwarten sind, sollten die FPÖ und ihr Spitzenkandidat Herbert Kickl an der Regierung beteiligt werden. Paulitsch ist Jurist, Zeithistoriker und Medienethiker. Von 2019 bis 2024 war er Referent des Österreichischen Presserats, dem Selbstkontrollorgan der österreichischen Printmedien;  seit 2024 bei der Datum Stiftung für Journalismus und Demokratie.
mehr »

KI beinflusst Vielfalt in den Medien

Künstliche Intelligenz kann journalistische Texte in verschiedene Sprachen übersetzen und damit viel mehr Nutzer*innen ansprechen. Gleichzeitig kann sie aber auch Stereotype, die in diesen Texten enthalten sind, verfestigen. Gefahren und Chancen von KI-Anwendungen im Journalismus standen im Fokus der diesjährigen NxMedienkonferenz der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM), die sich für mehr Vielfalt in den Medien einsetzen.
mehr »

ARD & ZDF legen Verfassungsbeschwerde ein

Nachdem die Ministerpräsident*innen auf ihrer Jahreskonferenz Ende Oktober keinen Beschluss zur Anpassung des Rundfunkbeitrags ab 2025 fassten, haben heute ARD und ZDF Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingelegt. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di begrüßt die Initiative.
mehr »