Engagierte Medien abseits des Mainstreams sind hochinteressant, aber wenig bekannt. Deshalb stellt M mit dieser Rubrik in jedem Heft eines davon vor.
Ein merkwürdiges Blatt: Mal heißt es „Sielwall“, mal „Bahnhofsplatz“, mal „Breitenweg“. Halt, Irrtum! Der richtige Titel steht ganz klein unter den fetten Ortsbezeichnungen: „Die Zeitschrift der Straße“ (ZdS). Diese Titelblattgestaltung ist nicht das einzige Besondere an der vielleicht ambitioniertesten Obdachlosenzeitschrift Deutschlands, die seit nunmehr einem Jahr in Bremen und Bremerhaven erscheint.
Obdachlose? Die ZdS nennt sie lieber Wohnungslose. In der Redaktion arbeiten sie bisher nicht mit, aber sie verkaufen das Blatt. Von zwei Euro behalten sie die Hälfte. So weit, so üblich.
Ungewöhnlich an der ersten lokalen Straßenzeitung im Zwei-Städte-Staat ist einiges andere. Initiator war ein Professor für Tourismusmanagement und Betriebswirtschaft an der (Fach-) Hochschule Bremerhaven. Michael Vogels Studierende sollten lernen, ein Magazin auf den Markt zu bringen. Vogel fand bald Mitstreiter: Die Innere Mission zum Beispiel stellte den Kontakt zu Wohnungslosen her und sammelte Spenden für das derzeit noch defizitäre Projekt ein. Die Bremer Hochschule für Künste kümmert sich um die Optik, samt opulenter neunseitiger Fotostrecke. Mit seiner kleinen Schrift ist das 48-Seiten-Blatt zwar nicht gerade lesefreundlich, aber wegen seiner anspruchsvollen Gestaltung wurde es bereits prämiiert: von der „International Society of Typographic Designers“. Auch beim Wettbewerb „Generation D. Ideen für Deutschland“ kassierte das Projekt eine Auszeichnung.
Für die Texte sorgen vor allem Studierende, teils aus dem Bremer Fachjournalistik-Studiengang. Einziger Profi ist Armin Simon, freier Journalist und nebenbei ZdS-Chefredakteur mit Honorarvertrag. Alle anderthalb Monate komponiert die fünf- bis zehnköpfige Redaktion ein neues Heft. Anders als der „Asphalt“ aus Hannover, der auch auf Bremer Straßen verkauft wird und teils regionale, teils bundesweite Themen aktuell abhandelt, konzentriert sich die ZdS auf je eine Straße und entdeckt dort das Ungewöhnliche im Alltäglichen, meist zeitlos. Die Titel machen neugierig: „Das Knistern der Butter“, eine Blindenverein-Reportage. Oder: „Seelsorger der Pforte“, ein Hochhauspförtner-Interview.
Mit ihrem besonders schmalen Hochformat erinnert die ZdS an eine Speisekarte. Entsprechend regt sie den Appetit an. „Andere Straßenzeitungen werden oft aus Mitleid gekauft“, meint Chefredakteur Simon. „Wir wollen so hochwertig sein, dass die Leute das Heft wegen des Inhalts kaufen.“ Allmählich klappt das: Bisher wurde zwar weniger als die Hälfte der 13.000 Exemplare pro Ausgabe verkauft, aber, so Simon, „die Kurve geht nach oben“ – zumal auch ältere Hefte weiterhin nachgefragt werden. Denn sie sind ja zeitlos interessant.