Vom Mythos der großen Freiheit

Fallgeschichten aus dem freiberuflichen Alltag

„Selbstständig – Abschied vom Mythos“ heißt eine Sammlung mit 30 Erfahrungsberichten von Freien in Medien- und Kulturberufen, die die Kooperationsstelle Wissenschaft-Arbeitswelt der Sozialforschungsstelle Dortmund gemeinsam mit dem örtlichen ver.di-Bezirk herausgegeben hat. Die 80-seitige Broschüre durchzieht ein angenehm wenig klagender Ton – eindrucksvoll und konkret dokumentieren die Fallgeschichten Licht und Schatten im freiberuflichen Alltag.


Ein freier Mitarbeiter des WAZ-Konzerns wird für eine Text-Bild-Reportage mit einem Honorar von 20 Euro für 200 Zeilen Text und 15 Euro pro Bild abgespeist. Ein selbstständiger Kameramann schildert die Produktionsbedingungen der „schönen neuen Fernsehwelt“, in dem es kein „gut funktionierendes Team“ mehr gibt, sondern jeder Akteur eigene Interessen verfolgt. Eine Hörfunkautorin beschreibt die „Featuritis“, persönlich betroffene Opfer soll sie präsentieren und keine Strukturen analysieren. Einen Onlinejournalisten stört der rechtliche Schwebezustand, meist erhält er keine Auftragsbestätigung. Die freie PR-Journalistin lebt teilweise von Hartz IV; aber es gibt auch den Illustrator, dem nur die Selbstständigkeit ermöglicht, für seine Kinder da zu sein. „Meine Zeit gehört mir“ ist das Wichtigste für eine Autorin von wdr.de, und ein freiberuflicher Fotograf resümiert: „Diesen Job muss man sich leisten können.“

„Es ist ein Mythos, wenn von selbstständiger Arbeit die große Freiheit erwartet wird“, sagt Mitherausgeber Klaus Kock von der Sozialforschungsstelle der Universität Dortmund. Ebenso wenig aber führe Freiberuflichkeit „zwangsläufig in die Armutsfalle“. Der Band will mit Vorurteilen aufräumen und ein realistisches Bild der Selbstständigkeit im Journalismus und verwandten Berufsbereichen vermitteln. Die Porträts schildern Positives wie Negatives. Die „Freien“ klagen nicht nur über unsichere Beschäftigung oder schlechte Bezahlung; sie begründen auch, warum sie persönliche Autonomie dem Angestelltendasein vorziehen. Sie erzählen von ihrer gelungenen Balance zwischen Beruf und Familie, leugnen aber nicht, wie prekär ihr Leben häufig verläuft; wie sehr sie die Ungewissheit belastet, ob auch im nächsten Monat das Konto gefüllt sein wird.
Abgerundet werden die facettenreich präsentierten Beispiele durch Gespräche mit Veronika Mirschel, der Leiterin des Referats für Selbstständige in der ver.di-Bundesverwaltung, und mit Norbert Szepan, der sich als Gewerkschaftssekretär des Fachbereich Medien, Kunst und Kultur um Soloarbeiter im Bezirk Westliches Westfalen kümmert. Das Redaktionsteam bildete die Dortmunder Selbstständigengruppe in ver.di – ein lockerer Kreis von Journalistinnen, Historikern, Dozentinnen, Grafikern, Künstlerinnen und Beratern. Sie treffen sich seit 2006 im ver.di-Haus Dortmund, um über ihre Anliegen zu reden und Erfahrungen auszutauschen. Tatkräftige Unterstützung kommt von der Kooperationsstelle, einer traditionell gewerkschaftsnahen Einrichtung.
Die Idee zur Publikation entstand im vergangenen Jahr mit Blick auf das nahende Großereignis Kulturhauptstadt 2010 im Ruhrgebiet. Kolleginnen und Kollegen wurden aufgerufen, über ihre Erfahrungen mit der Selbstständigkeit zu berichten. Das Ergebnis ist ein echtes Gemeinschaftswerk von Freiberuflern: Ob es um Interviews, Lektorat, Bilder, Karikaturen, Layout oder Druckvorlagen ging, für jeden Arbeitsgang gab es jemanden, der beruflich entsprechend spezialisiert war. Mit dem Sammelband hat die Gruppe überzeugend dargestellt, wie maßgeblich selbstständige Medienarbeiter zum Gelingen von Veröffentlichungen und Kulturevents beitragen.


Kostenlos zu bestellen

Selbstständig – Abschied vom Mythos. Aus dem wahren Leben von Freien und Selbstständigen, Dortmund 2010. Die Broschüre kann kostenlos bestellt werden beim ver.di-Bezirk oder bei der
Sozialforschungsstelle
Evinger Platz 15
44339 Dortmund
Telefon 0231 / 85 96–143.

Weitere aktuelle Beiträge

AfD-Einstufung zwingt Rundfunkgremien zum Handeln

Das zunächst unter Verschluss gehaltene Gutachten des Verfassungsschutzes, welches zur Einstufung der Partei Alternative für Deutschland (AfD) als „gesichert rechtsextremistische Partei“ führte, wurde nunmehr durch Medien veröffentlicht. Innenminister Dobrindt ließ zunächst offen, inwiefern juristische Schritte gegen die Veröffentlichung geplant seien. Christoph Schmitz-Dethlefsen, für Medien zuständiges Mitglied im Bundesvorstand von ver.di, begrüßt, dass nun öffentlich über das Zustandekommen der Einstufung diskutiert werden kann.
mehr »

Vernetzte Frauen im Journalismus

Sich als Frau in einer Branche behaupten müssen, in der Durchsetzungskraft und Selbstbewusstsein entscheidende Faktoren sind: Für Generationen von Journalistinnen eine zusätzliche Belastung im ohnehin schon von Konkurrenz und Wettbewerb geprägten Beruf. Angesichts dieser Herausforderung sind Netzwerke und solidarische Bündnisse von großer Bedeutung. Der Journalistinnenbund (JB) hatte hierbei seit seiner Gründung im Jahr 1987 eine Vorreiterrolle inne. Sein Anliegen: Geschlechtergleichstellung in den Medien erreichen.
mehr »

In den eigenen Räumen etwas bewegen

Stine Eckert forscht zu Geschlechterkonstruktionen in den Medien am Institut für Kommunikationswissenschaft an der Wayne State University in Detroit. Ihr Buch „We can do better“ versammelt  „feministische Manifeste für Medien und Kommunikation“. Mit Ulrike Wagener sprach sie für M über die Verbindung zwischen Universitäten und Aktivismus und die Frage, wo Medien und Medienschaffende etwas verändern können.
mehr »

Aktive Medien gegen Rechts

„Wie weiter?“ – unter dieser Fragestellung wollten am 7. Mai in der rheinland-pfälzischen Landesvertretung in Berlin Medienpolitiker*innen und Journalist*innen über „Visionen für eine demokratische Medienlandschaft“ diskutieren. Den Rahmen bildete das Roman Brodmann Kolloquium zum Oberthema „Rechtsruck in Europa! Ohnmacht der Medien?“ Anstelle von überzeugenden Visionen spiegelte die Debatte eher die Ratlosigkeit der Demokraten angesichts eines erstarkenden Rechtsextremismus.
mehr »