Eine „internationale Finanzoligarchie” plant den „großen Bevölkerungsaustausch”, Mondlandung und 11. September waren Inszenierungen der US-Regierung, der französische Präsident Emmanuel Macron ist eigentlich Freimaurer, mangels Friedensvertrag sind die Deutschen immer noch „Reichsbürger”: Michael Butter von der Uni Tübingen forscht seit Jahren über die Geschichte und Verbreitung von Verschwörungstheorien, die vor allem (aber nicht nur) in rechten politischen Kreisen kursieren. Jetzt hat er ein Buch zum Thema vorgelegt: „Nichts ist, wie es scheint”. Mit dem Autor sprach Thomas Gesterkamp.
M | Herr Butter, wie definieren Sie Verschwörungstheorien?
Michael Butter | Drei Charakteristika kennzeichnen Verschwörungstheorien. Erstens: Nichts geschieht durch Zufall. Das heißt, es gibt angeblich eine im geheimen operierende Gruppe, die Verschwörer, die alles, was geschieht, geplant haben. Zweitens: Nicht ist, wie es scheint. Das heißt, man muss unter die Oberfläche schauen, um die wahren Verhältnisse zu erkennen. Tut man das, dann erkennt man als drittes: Alles oder fast alles, ist miteinander verbunden. Die Einführung des Euro, Gender Mainstreaming und die Flüchtlingskrise erscheinen dann als Teil eines perfiden Gesamtplans.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Begriff zum Teil falsch verwendet wird.
Die Grenzen zwischen politischer Meinung und Verschwörungstheorie sind fließend. Nicht alles, was so genannt wird, weist die drei Charakteristika auf. Der Begriff kann wissenschaftlich-neutral verwendet werden, aber eben auch als Mittel der Delegitimierung, um unliebsame Gedankengebäude zu disqualifizieren. Kaum jemand bezeichnet sich selbst als Verschwörungstheoretiker, denn das sind immer die anderen. Die englischsprachige Forschung bezeichnet diese Taktik als „Reverse labeling“: Man bedient sich des Etiketts, das die Gegner einem selbst anheften wollen, und tut deren Behauptungen als Verschwörungstheorie ab. Die eigenen Verdächtigungen hingegen werden als wohlbegründet und im Grunde schon erwiesen präsentiert.
Sind Verschwörungstheorien etwas historisch Neues?
Die ersten Verschwörungstheorien entstanden, soweit wir heute wissen, irgendwann zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Denn erst da sind die notwendigen Bedingungen gegeben: ein Menschenbild, das Subjekten entsprechende Handlungsfähigkeit zuschreibt, eine lesende Öffentlichkeit, in der solche Theorien zirkulieren können, und der Buchdruck, der es erlaubt, die entsprechenden Texte zu verbreiten. Zunächst spielen in den Szenarien noch Gott und der Teufel eine große Rolle, aber ab dem 18. Jahrhundert finden wir die üblichen Verdächtigen, um die es auch in der Gegenwart noch oft geht, zum Beispiel den Geheimbund der Illuminaten oder die Freimaurer.
Hat die stärkere Verbreitung von Verschwörungstheorien mit dem Nachlassen religiöser Bindungen zu tun?
Historiker begründen das so, mit der Säkularisierung. Einst glaubten die Menschen an eine göttliche Instanz, die alle Fäden in der Hand hält. Das fällt mit der Aufklärung zunehmend weg. Zugleich aber waren die Menschen noch nicht bereit zu akzeptieren, dass komplexe Gesellschaften Dinge hervorbringen, die niemand so geplant hat. Irgendjemand muss das lenken, an die Stelle von Gott treten dann die Verschwörer.
Sie sind Amerikanist. Gibt es in den Vereinigten Staaten eine besondere Neigung zu Verschwörungstheorien?
Vor zehn Jahren hätte ich diese Frage noch mit eine klaren „Ja“ beantwortet. Mittlerweile wissen wir, wie wichtig Verschwörungstheorien auch in der europäischen Geschichte waren und es immer noch sind. Fakt ist aber, dass in den USA deutlich mehr Menschen an so etwas glauben als in Deutschland. Neueren Umfragen zufolge hängt dort jeder zweite Bürger mindestens einer Verschwörungstheorie an. Wir denken vielleicht sofort an die Anhänger von Donald Trump, aber das sind nicht die einzigen.
Sie haben ein EU-Projekt zum Thema mitangestoßen, in dem über hundert Forscher aus 39 Ländern kooperieren. Wo liegen die Unterschiede innerhalb Europas?
In Mittel-, West- und Nordeuropa sind Verschwörungstheorien seit den 1950er Jahren stigmatisiert. Sie sind zwar weiterhin für viele attraktiv, aber sozial nicht akzeptiert. In Ost- und Teilen von Südeuropa ist das anders, dort verbreiten fast alle Politiker und große Teile der Medien ständig Verschwörungstheorien. Denken Sie nur an die ungarische Regierung unter Viktor Orban, die behauptet, der US-Finanzinvestor George Soros wolle Millionen Migranten in Europa ansiedeln, um die „nationale und christliche Identität” des Kontinents auszulöschen. Die Theorie vom Weltenlenker Soros knüpft ganz offen an alte antisemitische Hetzkampagnen an – der Angegriffene ist ja ein in Ungarn geborener Jude.
Das Internet gilt als eine Art Brandbeschleuniger für einfache Welterklärungen. Sind Verschwörungstheorien vor allem ein Netzphänomen?
Nein. Das Internet hat Verschwörungstheorien nur wieder sichtbarer gemacht und dadurch auch zu einem Anstieg an „Gläubigen“ geführt. Der ist aber nicht so rapide, wie es uns manchmal vorkommt. Verglichen mit der Zeit vor hundert oder zweihundert Jahren glauben heute sogar eher weniger Menschen an Verschwörungstheorien. Ihre Verbreitung reicht allerdings bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein.
Schaut man auf Netzeinträge etwa zum 11. September 2001, fällt auf, dass überwiegend Männer dazu posten. Sind diese besonders anfällig für abstruse Gedankenkonstrukte?
In der Gegenwart auf jeden Fall. Das liegt daran, dass Verschwörungstheorien einem erklären, warum die Dinge falsch laufen. Und die männliche Identität ist in den letzten Jahrzehnten deutlich heftiger erschüttert worden als die weibliche. Daher neigen momentan insbesondere diejenigen zu Verschwörungstheorien, die Verlustängste spüren und daher auch die populistischen Bewegungen der Gegenwart tragen: weiße Männer über 40. Das ist genau jene demografische Gruppe, die Trump ins Amt gebracht hat und die auch bei Pegida mitmarschiert.
Führt verschwörungstheoretisches Denken zu Gewalt? Ein „Reichsbürger”, der staatliche Autoritäten nicht anerkennt, hat 2016 bei einer Hausdurchsuchung aus dem Hinterhalt einen Polizisten erschossen.
Das ist tragisch, aber man darf hier nicht vorschnell verallgemeinern. Viele Verschwörungstheoretiker sind harmlos. Aber wir reden halt häufiger über die, die es nicht sind. Generell sind Theorien, die sich gegen Schwache und Ausgegrenzte richten, gefährlicher als solche, die Eliten beschuldigen. Und natürlich sind alle rassistischen oder antisemitischen Theorien problematisch. Also: Solche Deutungen können zu Gewalt führen, tun dies aber nicht zwangsläufig.
Beeinflussen Verschwörungstheorien die Politik?
In Gesellschaften, in denen Verschwörungstheorien als legitimes Wissen gelten, tun sie das ganz massiv. Sowohl der amerikanische Unabhängigkeitskrieg als auch der spätere Bürgerkrieg wurden zu einem beträchtlichen Teil von solchen Theorien mitverursacht. Für die puritanischen Siedler zum Beispiel waren alle, die sich ihnen entgegenstellten, Teil eines teuflischen Komplotts, das galt für die Indianer genauso wie für die Quäker oder die französischen Katholiken in Kanada. US-Präsident Abraham Lincoln zeigte sich Mitte des 19. Jahrhunderts in einer berühmten Rede überzeugt, seine politischen Gegner wollten die Sklaverei nicht nur im Süden der USA beibehalten, sondern diese auf das ganze Land ausdehnen. In der amerikanischen Kultur galten Verschwörungstheorien noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg als völlig legitim. Die Mehrzahl der US-Präsidenten glaubte daran, von Washington bis Eisenhower. Aber selbst bei uns, wo diese spätestens seit den Erfahrungen im Nationalsozialismus stigmatisiert sind, bleiben sie nicht ohne Effekt. Die Verschwörungstheorien, die unter vielen Pegida- oder AfD-Anhängern verbreitet sind, beeinflussen, wie diese Bewegungen Politik machen und somit indirekt auch den gesamtgesellschaftlichen Diskurs.
Gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und rechtem Populismus?
Ja. Verschwörungstheorien und Populismus haben viele strukturelle Gemeinsamkeiten. Beide vereinfachen zum Beispiel das politische Feld in zwei Gruppen: Volk und Elite beziehungsweise Opfer der Verschwörung und Verschwörer. Letztendlich liefern Verschwörungstheorien nur eine spezifische Erklärung für das Verhalten der Eliten, das der Populismus allgemeiner kritisiert. Die Eliten sind dann nicht nur abgehoben oder individuell korrupt, sondern gleich Teil eines Komplotts. Entsprechend können populistische Bewegungen Verschwörungstheoretiker wunderbar integrieren. Diese stimmen mit den Nichtverschwörungstheoretikern in fast allem überein.
Gibt es auch linke Verschwörungstheoretiker?
Sicher nicht so ausgeprägt wie im rechten politischen Spektrum. Doch in kommunistischen Regimen wie der Sowjetunion und China wimmelt es im 20. Jahrhundert von Verschwörungstheorien. Mal geht es um subversive Kräfte aus dem Aus- und Inland, mal um eine Verschwörung des Großkapitals. Oder diskutieren Sie mal hier im linksintellektuellen Tübingen auf Spielplätzen über die Notwendigkeit von Impfungen! Da schlägt einem ein völlig überzogenes Misstrauen gegenüber der Ärzteschaft und der Pharmaindustrie entgegen. Mit einer grünen Impfgegnerin zu sprechen kann genauso anstrengend sein, wie einem AfD-Anhänger ausreden zu wollen, Angela Merkel werde direkt aus Washington gesteuert.
„Alternativen Fakten” aus dubiosen Blogs oder Foren schenken manche mehr Glauben als den Recherchen seriöser Medien, die als „Lügenpresse” beschimpft werden. Was kann man tun gegen Verschwörungstheorien?
Empirische Experimente zeigen: Wenn man überzeugte Verschwörungstheoretiker mit schlüssigen Gegenargumenten konfrontiert, halten sie danach noch fester an ihrem Gedankengebäude fest. Es ist schwer, an wirklich „Gläubige” heranzukommen. Wenn man überhaupt diskutieren will, sollte man sehr niedrigschwellig und eher emotional einsteigen. Oft geht es um Anerkennung, darum, überhaupt ernst genommen zu werden. Gleichzeitig muss man ansetzen bei den Zweiflern, die noch nicht vollständig von solchen Theorien überzeugt sind, und überhaupt für eine gute Bildung sorgen: Wissen darüber, wie moderne Gesellschaften funktionieren, und Medienkompetenz sind das allerwichtigste.
Vielen Dank für das Gespräch.
Michael Butter ist Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen und Mitinitiator des EU-Projekts „Comparative Analysis of Conspiracy Theories”, in dem ein interdisziplinäres Forschungsteam die Hintergründe und Gefahren von Verschwörungstheorien vergleicht. Sein Buch “‘Nichts ist, wie es scheint” ‘ist im Suhrkamp Verlag erschienen. 270 Seiten, 18 Euro. ISBN 978-3-518-07360-5.
Kleines ABC der Verschwörungstheorien – gestern und heute
Barack Obama: ist kein Amerikaner, behaupten die „Birther”: Er wurde gar nicht in den USA geboren, hat seinen Pass gefälscht und sich die Staatsbürgerschaft (und damit auch die Präsidentschaft) erschlichen.
Chemtrails: Kondensstreifen von Flugzeugen am Himmel sind Zeichen einer organisierten Vergiftung, die Menschen gefügig machen soll. Ob die versprühten vorrangig die Gedanken steuern oder Homosexualität fördern, darüber herrscht keine Einigkeit unter den „Chemmies”.
Großer Austausch: Europa wird „geflutet mit Afrikanern und Orientalen”, um Alteingesessene durch Migranten zu ersetzen. Das „internationale Kapital” befürwortet diese „Umvolkung”, denn es erhält so billige Arbeitskräfte. Die kulturellen Eliten glorifizieren die schleichende „Islamisierung” als multikulturelle Lebensbereicherung.
Impfgegner: Ärzte und Pharmahersteller haben sich gegen die Naturheilkunde verbündet, drängen ihren Patienten überflüssige und gefährliche Impfungen auf. Kinderkrankheiten gehören durchgestanden! Dass der eigene, ungeimpfte Nachwuchs die Viren in die Kitas trägt, nehmen die „Alternativmediziner” in Kauf.
Kennedy-Mord: Lee Harvey Oswald war kein Einzeltäter, dahinter steckten wahlweise der Geheimdienst CIA, die Mafia oder die Kubaner.
Kommunisten: US-Senator Joseph McCarthy führte in den 1950er Jahren seinen „Fight for America”. Unbescholtene Hochschulprofessoren und andere Staatsbedienstete, aber auch Künstler und Intellektuelle waren die Opfer dieser Hatz.
Massenvernichtungswaffen: wurden dem Irak angedichtet, um den Zweiten Golfkrieg zu rechtfertigen. Auch für die vorgebliche Zusammenarbeit zwischen Saddam Hussein und den afghanischen Taliban fehlten die Belege.
Mondlandung: Die Spaziergänge von Neil Armstrong und Edwin Aldrin wurden im Studio nachgestellt, nach anderen Gerüchten hat sie der Regisseur Stanley Kubrick in Mexiko gedreht. Als verräterischer Beleg gilt die sich bewegende amerikanische Flagge auf den Fernsehbildern, denn auf dem Mond weht kein Wind.
Nineleven: Mehr als die Hälfte der US-Amerikaner glaubt, die Anschläge in New York und Washington am 11. September 2001 seien mit Absicht nicht verhindert worden. Immerhin 15 Prozent sind überzeugt, die eigene Regierung habe die Türme des World Trade Center gesprengt.
Puritaner: Die ersten Siedler in der Neuen Welt waren protestantische Fundamentalisten, die sich von katholischen Verschwörern umzingelt fühlten. Zu diesen gehörten anfangs vor allem die französischen Kanadier in Quebec, später auch irische und italienische Einwanderer.
Reichsbürger: Das Deutsche Reich hat nie aufgehört zu existieren, seine heutigen Bewohner sind daher nicht an die Gesetze der angeblichen Firma „BRD GmbH” gebunden. Im Oktober 2017 wurde ein „Souveränist” zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er im fränkischen Georgensgmünd einen SEK-Beamten erschossen hatte.
Reptiloide: Die Suchanfrage nach diesem Begriff im Internet ergibt rund 100.000 Treffer. Der Theorie zufolge wird die Welt beherrscht von einer Elite ursprünglich außerirdischer Reptilwesen, die eine menschliche Gestalt annehmen können. Die bekanntesten Verschwörer-Echsen sind Hillary Clinton und Angela Merkel. tg
Von der „Preßfrechheit” zur Lügenpresse
Regierung und Wirtschaft lenken die Medien und belügen die Bevölkerung: Auch das ist eine Verschwörungstheorie. Verbreitet wird sie nicht nur von einem harten Kern von Pegida-Demonstranten oder AfD-Wählern. Eine Umfrage des Emnid-Institutes im Auftrag des Bayerischen Rundfunks ergab 2016, dass nur 34 Prozent der Befragten die Berichterstattung für unabhängig halten. Parteien, staatliche Institutionen und große Konzerne bestimmen, was im Journalismus auftaucht und was nicht: Das glauben der Untersuchung zufolge sechs von zehn Bundesbürgern.
Die „Systemmedien” als willfährige Vollstrecker einer höheren Macht: Dieses Klischeebild hat eine lange Geschichte. Der Kölner Medienwissenschaftler John David Seidler zeichnet in seiner Dissertation nach, wie der Journalismus schon seit der Entstehung dieses Berufsfeldes argwöhnisch beobachtet wurde. So witterten Verschwörungstheoretiker kurz nach der Französischen Revolution ein „Buchhändler-Komplott”: Zeitungen und Zeitschriften dienten dem zufolge vor allem dazu, die aufklärerischen Gedanken von Geheimbünden wie den Freimaurern und Illuminaten zu verbreiten. Im deutschen Kaiserreich war von „Preßfrechheit” und „Journalisten-Unfug” die Rede, in der Weimarer Republik schimpften die Nationalsozialisten über eine von amerikanischem Kapital gesteuerte „Judenpresse” – die nach ihrer Machtübernahme sofort verboten wurde.
Die heutigen Kampagnen von Rechtspopulisten gegen „Mainstreammedien”, „Lügenpresse” oder „Zwangsbeiträge” stehen also in einer problematischen Tradition. Kritik an einseitiger Berichterstattung und Hinweise auf ökonomische Abhängigkeiten sind selbstverständlich wichtig und legitim. Der Behauptung, Medien würden zentral gesteuert und die dort Arbeitenden seien zumindest nützliche Idioten, wenn nicht gar Komplizen einer organisierten Verschwörung, fehlt allerdings jede Grundlage. tg