Der Zufall wollte es: Als am Morgen des 19. April die Nachricht von den vorgezogenen Wahlen in der Türkei über die Sender lief, war später am Abend der türkische Journalist und Schriftsteller Aziz Tunc in der ver.di-MedienGalerie in Berlin-Kreuzberg zu Gast. Er las im Begleitprogramm zur aktuellen Pressefreiheitsausstellung Texte aus seinem Buch „Töte du mich“. Debattiert wurde anschließend auch.
Es geht um ein mörderisches Massaker, das sich 1978 in der südanatolischen Stadt Maras ereignete und dessen Augenzeuge und Überlebender der Autor wurde. Die damaligen Ereignisse, die ihm eingebrannt sind, hat er journalistisch aufzuarbeiten versucht und schriftstellerisch umgesetzt. Der Angriff rechtsradikaler Islamisten und Paramilitärs richtete sich gegen die Minderheit von Kurden und besonders von Aleviten, die als „Ungläubige“ angeprangert wurden und werden. Aziz Kunc recherchierte das Schicksal der 99 dabei Umgekommenen – Männer, Frauen und Kinder – und verarbeitete die Tatsachen in dem Buch „Die Hintergründe des Angriffs auch Maras“ – nach dessen Erscheinen er verhaftet und für zwei Jahre inhaftiert wurde. Unerschrocken hat er anschließend sein Thema weiter verfolgt und das Schicksal einer Familie zum Inhalt eines weiteren Buches gemacht, aus dem er an diesem Abend gelesen hat: „Töte du mich“ – der Titel bezieht sich auf die Bitte einer Mutter an ihren Ehemann, sie zu umzubringen, damit sie der blindwütigen Ermordung ihrer Kinder nicht zusehen muss.
Für die Zuhörer wirkte verstörend, dass es in dem Buch nicht um erzählerische Erfindungen geht – das beschriebene blutige Wüten hat sich vor wenigen Jahrzehnten tatsächlich so abgespielt. Erschreckend auch, dass die Mörder nie zur Rechenschaft gezogen worden sind, dass es sich nicht um einen vereinzelten Fall gehandelt hat. Der 61-Jährige Aziz Tunc, der das Massaker von Maras nach eigenem Erleben dokumentiert hat und entsprechend bedroht ist, lebt heute als politischer Flüchtling, getrennt von seiner Familie, in Hanau bei Frankfurt/Main. Im Oktober vergangenen Jahres ist sein Antrag auf politisches Asyl genehmigt worden.
Anlass zu seiner Lesung war die gegenwärtige Ausstellung „Unter Druck – Journalisten im Visier“. In ihr hat die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten Union (dju) Berlin-Brandenburg die aktuelle Verfolgung unzähliger Medienschaffender in der Türkei zum Thema gemacht. Zur Veranstaltung trug Gerd Bedszent vom Verband der Schriftsteller (VS) in ver.di bei. Selbstverständlich richtete sich im anschließenden Gespräch das Interesse besonders auf die gegenwärtige politische Entwicklung in der Türkei. Nach Ansicht von Aziz Tunc wird dort der Islam heute nicht mehr als Religion betrachtet, sondern als Mittel politischen Einflusses eingesetzt. Dies geschehe nach seiner Kenntnis auch in Europa, besonders in der Bundesrepublik. Die Religionsfreiheit hierzulande werde in vielen Moscheen zu reaktionärer politischer Einflussnahme missbraucht. Außerdem werde zu großzügig übersehen, dass kein anderes Land auf seine in Deutschland lebenden Auswanderer so starken politischen Einfluss nimmt wie die Türkei.
Veranstaltungen in der MedienGalerie
26. April 18 Uhr: „Begegnungen/Relaciones – VS-Lesung aus der gleichnamigen Anthologie“
3. Mai 18 Uhr: Podiumsdiskussion zum Tag der Pressefreiheit im Rahmen der Ausstellung „Unter Druck – Journalisten im Visier. Das Beispiel Türkei“
Es gibt viele Länder weltweit, in denen die Pressefreiheit unter Druck ist. Aber in keinem anderen Land sind so viele Journalisten wegen ihrer beruflichen Arbeit inhaftiert oder unter fadenscheinigen Begründungen unter Anklage gestellt wie in der Türkei. Deniz Yücel ist freigelassen worden. Doch am selben Tag wurden drei Journalisten zu verschärfter lebenslanger Haft verurteilt. Weiterhin sind mehr als 150 Journalisten eingesperrt. Die Ausstellung in der ver.di-MedienGalerie arbeitet die Problematik auf. Sie ist noch bis 18. Mai zu sehen.
MedienGalerie Berlin des ver.di-Landesbezirks Berlin-Brandenburg, Dudenstraße 10, 10965 Berlin (U-Bahn-Station Platz der Luftbrücke). Öffnungszeiten: Mo, Fr 14 – 16 Uhr, Di 17 – 19 Uhr, DO 14 – 18 Uhr.