Die Türkei nimmt in der Rangliste der Pressefreiheit inzwischen den Platz 157 von 180 ein, erklärte Christian Mihr von „Reporter ohne Grenzen“ bei einer Diskussion zum Tag der Pressefreiheit am 3. Mai in der MedienGalerie in Berlin. Er wies darauf hin, dass es bei allen derzeit massiven Repressionen gegen Journalisten eine Tradition der Presseunterdrückung in der Türkei gebe. 2002 schaffte man in der ältesten Rangliste auch nur den 99. Platz. Wie türkische Kolleg_innen unterstützt werden können, war ein Schwerpunkt der Debatte.
Antonia von der Behrens, Rechtsanwältin und Prozessbeobachterin, berichtete, die ersten massiven Klagewellen gegen Berufsgruppen wie Anwälte und Journalisten habe es bereits 2009/10 in der Türkei gegeben – mit Anklagen, die den Betroffenen im Kern nur ihre Berufsausübung vorwürfen. Doch die deutsche und europäische Öffentlichkeit hätte diese Repressionen nicht schnell genug als Kampagnen erkannt, der nötige Aufschrei sei ausgeblieben.
Frühere Verleger seien nur Verleger gewesen, betonte Kemal Çalik vom Bund türkischer Journalisten in Europa (ATGB), doch seit etwa zehn Jahren zwinge die Regierung zunehmend Unternehmer aus der Bau- und Energiebranche, Medienunternehmen aufzukaufen. Da diese von Staatsaufträgen in ihren Kernbereichen abhängig seien, bewegten sich inzwischen 90 bis 95 Prozent der Medien auf Regierungskurs. Direkte Anweisungen von Regierungsstellen an Chefredakteure seien keine Seltenheit, berichteten Çalik und der Autor Ömer Erzeren („Eisbein in Alanya“) übereinstimmend. In diesen „Mainstream“-Medien gebe es auch keinen Platz für irgendeine Form der journalistischen Unabhängigkeit.
Auf die Frage von Moderatorin Renate Gensch, Landesvorsitzende und im Bundesvorstand der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di, berichtete Ali Çelikkan, Co-Projektleiter der deutsch-türkischen Plattform „taz Gazete“, dass man davon ausgehen müsse, dass auch Journalisten im Exil zugunsten der Regierung beeinflusst werden sollen. Mihr fügte hinzu, dass die lange Hand der Regierung sich auch der Angehörigen bediene, um Druck auszuüben.
Die Diskussion stand vor allem unter der Frage: Wie können wir türkische Kolleg_innen unterstützen? „Reporter ohne Grenzen“ versucht dies, indem sie Exiljournalist_innen Kontakte zur türkischen Gemeinschaft und zu Exilmedien vermittle. Die meisten Geflohenen seien nicht an Asyl interessiert, sondern an einer Aufenthalts- mit Arbeitserlaubnis, um in Exilmedien oder auch per Übersetzungen in deutschen Medien die Situation in ihrer Heimat für Deutsche, aber via Internet auch für ihre heimischen Leser schildern zu können. Da die Journalis_innen zumeist mit Touristenvisa eingereist sind, sei es ein ziemlicher bürokratischer Aufwand, die Visa umzuwandeln, ohne dass die Betroffenen zunächst in die Türkei zurückkehren müssten. Dabei helfe zum einen der Referent für Nothilfe und Flüchtlingsfragen von „Reporter ohne Grenzen“, Jens-Uwe Thomas.
Eine weitere Möglichkeit für Redaktionen, den Exilierten Hilfe zu leisten, sei es, „Fiktionsbescheinigungen“ auszustellen, die eine freie Mitarbeit für die Redaktion attestieren. Damit könne ROG bei der Visumsumwandlung argumentieren, erläuterte Elisabeth Kimmerle von „taz Gazete“. Çelikkan empfahl, unabhängige Zeitungen wie „Cumhuriyet“ durch Abos aus dem Ausland wirtschaftlich zu unterstützen.
Einen gewissen Einfluss, antworteten von der Behrens und Mihr auf Nachfrage, hätten internationalen Prozessbeobachter in türkischen Gerichtssälen durchaus: Zum einen als emotionale Unterstützung für die Angeklagten, zum anderen auch als Druck auf die Justiz, da sich die Türkei nach außen so gern als Rechtsstaat präsentieren möchte. ROG als Journalistenorganisation versucht deshalb regelmäßig, in die Prozesse „Drittparteistellungnahmen“ einzubringen nach der Rechtskonstruktion des „amicus curiae (Freund des Gerichts)“ aus der Antike, die heute etwa in den USA und der Türkei existiert. Dabei müssen die Einwürfe gegen die Anklagen offiziell zu den Akten genommen werden.
Ist die deutsche Berichterstattung über die Türkei zu holzschnittartig, fragte Gensch die Diskutanten. Diese wünschten sich weniger Konzentration auf Erdoğan, mehr Berichte über die Opposition und das Leben in anderen Teilen der Türkei als im schicken Istanbuler Stadtviertel Beyoğlu. Auch die vorgezogene Neuwahl des Präsidenten hänge mit einschneidenden Wirtschaftsverschlechterungen und der Angst vor der Reaktion der Wähler zusammen.
Deutsche Medien sollten mehr Aufmerksamkeit auf Unregelmäßigkeiten und Fälschungsvorwürfe lenken. In der Türkei berichteten Online-Medien seit Tagen über das vermeintlich gefälschte Hochschuldiplom von Erdoğan – nach der türkischen Verfassung neben einem Mindestalter von 55 Jahren die Voraussetzung für eine Kandidatur als Präsident. Alle anderen Kandidaten müssten dies nachweisen, für Erdoğan gebe es seit kurzem ein Ausnahmegesetz, erklärte ein deutsch-türkischer Journalist aus dem Publikum.
Mihr gab zu bedenken, dass Online-Plattformen oft der einzige Freiraum in Ländern seien, in denen die Presse- und Meinungsfreiheit unterdrückt werde – auch wenn Dienste wie Twitter in der Türkei immer wieder gesperrt würden, ebenso Wikipedia. Allerdings sei in Europa auch nicht wahrgenommen worden, dass die türkische Regierung schon länger als die russische ihre „Troll-Armeen“ einsetze und das Internet massiv überwache. Hier seien Neulinge als Korrespondenten zunächst häufig „digital naiv“, klagte Mihr.
Den Schlusspunkt setzte ein Hinweis aus dem Publikum, dass in der Berliner Gethsemanekirche ein türkisches Filmfestival vorbereitet werde, mit Unterstützung von ver.di und der dju. Die Veranstaltung fand im Rahmen der Ausstellung „Unter Druck – Journalisten im Visier. Das Beispiel Türkei“ statt, die noch bis zum 18. Mai in der ver.di-MedienGalerie zu sehen ist.