Von Fälschungen und Wahrheiten

War es ein „Fall Claas Relotius“ oder doch ein „Fall Spiegel“ oder gar ein „Fall Medien“? Noch immer ergeben sich viele Fragen. Warum hat nie jemand eine Gegendarstellung im Spiegel verlangt? Ja, in Kriegsgebieten liest man nicht den Spiegel, aber wie ist es in Städten großer Staaten mit Pressestellen und allem, was dazu gehört? Warum kaufte die Redaktion alles ohne Widerspruch ab?

Ulrich Sander
Foto: Privat

Dass niemand etwas ahnte, liegt wohl daran, dass die Artikel dem allgemeinen Trend entsprachen. Weil es ja alles so und nicht anders gewesen sein könnte, ja musste. Zum Beispiel die Sache mit dem Jungen, der dem Relotius angeblich gesagt hat, dass er den Syrienkrieg ausgelöst hat. Dass Jungens einen Streich spielten und regimefeindliche Losungen an die Wand schrieben, was die heftige Reaktion des syrischen Militärs auslöste, das hatte man uns doch jahrelang erzählt. Wie wenn nun nicht nur der Junge, sondern auch die Meldung von der Kriegsursache nicht echt waren?

Viele Redaktionen nehmen alles, was echt klingt, aber nicht echt ist. Es gibt aber auch Redaktionen, die weisen echte, aber nicht im Trend liegende oder gar überraschende Informationen einfach zurück – ohne den Autor zu fragen. Davon kann ich ein Lied singen.

Im Herbst 1991 bot ich Tageszeitungen Berichte von Tagungen des Bundesinnenministeriums und des Verfassungsschutzes sowie der Deutschen Wirtschaft mit der Bundeswehr an. Beide Beiträge wurden gedruckt, wenn auch verstümmelt (siehe ND vom 5. 10. 1991 und 3.12.1991). Wirklich wichtige neue Infos wurden daraus, ohne mich zu fragen, gestrichen.

Bei einem Treffen des Bundesinnenministeriums von 1991, dass sich mit der Indoktrination von DDR-Medienmitarbeitern befasste, wurde angestrebt, den „immer noch populären Antifaschismus endgültig zu überwinden“. Dazu wurden bei einer Tagung Papiere vorgelegt, in denen der Bundesinnenminister, damals Wolfgang Schäuble, beklagte, die Linken setzten „auf die traditionelle Zugkraft des Antifaschismus, um so ihre Bündnisfähigkeit zurückzugewinnen“; es gelte, die frühen neunziger Jahre zur Übergangszeit zum Beginn eines Anti-Antifaschismus zu machen. Diese Informationen wurden aus meinen Beiträgen gestrichen. Mir wurde nicht geglaubt.

Ich war ebenfalls Zeuge einer Konferenz von Politikern, Wirtschaftsvertretern – vor allem aus der Rüstungsindustrie – und hohen Offizieren im Herbst 1991 bei der Bundesluftwaffe in Fürstenfeldbruck, wo der Verfassungsexperte der CDU und ehemalige Verteidigungsminister Rupert Scholz ausführte: Die Mandatierung einer WEU – so hieß damals die EU – als Militärarm Europas anstelle der Mandatierung des UNO-Sicherheitsrat sei erforderlich. Weiter Rupert Scholz (CDU): Nach Überwindung der wichtigsten Folgen des zweiten Weltkrieges „sind wir heute damit befasst, noch die Folgen des Ersten Weltkrieges zu bewältigen“. Denn: „Jugoslawien ist als Folge des ersten Weltkrieges eine sehr künstliche, mit dem Selbstbestimmungsgedanken nie vereinbar gewesene Konstruktion“. Auch diese alarmierende Information wurde in meinem Beitrag für Tageszeitungen gestrichen. Die Darlegungen von Scholz (der vollständiger Redetext ist in meinem Besitz) waren damals die erste Darstellung der neuen aggressiven Bundeswehrkonzeption, wie sie dann angewendet wurde – mit den bekannten Folgen vom Jugoslawien-Krieg 1999 bis zur Militarisierung der EU.

Relotius bewegte sich im Rahmen dessen, was wahrscheinlich, aber falsch war! Ich beschrieb das Unwahrscheinliche, was aber wahr war. Ich zitierte Scholz und Schäuble auf Grund meiner Notizen (allerdings gab es im Fall Schäuble schriftliches, im Fall Scholz erst später). Das waren zu heiße Eisen. Leider haben die Kollegen diese heißen Eisen nicht anpacken wollen – so unterblieb die rechtzeitige Enthüllung von Militär- und Regierungskonzepten.


Quellen und Literatur zu diesem Beitrag:

bbw-Dokumentationsreihe Nr. 20 des Bildungswerkes der Bayerischen Wirtschaft, München (Protokoll von Fürstenfeldbruck)

Ulrich Sander „Die Bundeswehr im Kriegseinsatz – Der dritte Feldzug gegen Serbien“ mit Vorwort von Gerhard Zwerenz (Hg. Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/BdA), Hannover, Juni 1999

Texte zur Inneren Sicherheit „Bedeutung und Funktion des Antifaschismus“ Hg. Bundesminister des Inneren Bonn, Oktober 1990

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Wie ethisch kann KI berichten?

Ein ethischer Kompass ist angesichts zunehmender Desinformation immer wichtiger – für Journalist*innen, aber auch Mediennutzende. Positivbeispiele einer wertebewussten Berichterstattung wurden jüngst zum 20. Mal mit dem Medienethik Award, kurz META, ausgezeichnet. Eine Jury aus Studierenden der Stuttgarter Hochschule der Medien HdM vergab den Preis diesmal für zwei Beiträge zum Thema „Roboter“: Ein Radiostück zu Maschinen und Empathie und einen Fernsehfilm zu KI im Krieg.
mehr »

VR-Formate im Dokumentarfilm

Mit klassischen Dokumentationen ein junges Publikum zu erreichen, das ist nicht einfach. Mit welchen Ideen es aber dennoch gelingen kann, das stand auf der Sunny Side of the Doc in La Rochelle im Fokus. Beim internationalen Treffen der Dokumentarfilmbranche ging es diesmal auch um neue Erzählformen des Genres wie Virtual Reality (VR).
mehr »

krassmedial: Diskurse gestalten

Besonders auf Social-Media-Plattformen wie TikTok und Telegram verbreiten sich rechtsextreme Narrative, die zur Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Wie Journalist*innen dem entgegen wirken und antidemokratische Diskursräume zurückgewinnen können, diskutierten und erprobten etwa 70 Teilnehmende der diesjährigen #krassmedial-Sommerakademie von ver.di am Wochenende in Berlin-Wannsee.
mehr »

KI-Bots: Kompletten Schutz gibt es nicht

KI-Bots durchstreifen das Netz, „scrapen“, also sammeln dabei auch journalistische Inhalte, um damit KI-Modelle wie Chat GPT zu trainieren. Welche technischen Maßnahmen können Journalist*innen ergreifen, um ihren Content zu schützen? Tipps des KI-Beraters Branko Trebsche.
mehr »