Wer von dem Dokumentarfilm „Die rote Linie“ eine abgewogenes Pro und Contra erwartet, Sachinformation und politische Einschätzung, der ist hier falsch. Wer wissen will, wie Konflikte entstehen, wie Solidarität sich bildet, wie eine Bürgerbewegung entsteht, die zum Symbol für den Kampf gegen eine verfehlte Energiepolitik wird – der ist hier richtig. Es geht um den Konflikt um den Hambacher Forst im rheinischen Braunkohlerevier.
Karin de Miguel Wessendorf hat diesen eskalierenden Konflikt über mehrere Jahre filmisch begleitet. Es beginnt mit kleineren Scharmützeln zwischen Waldbesetzern und Polizei. Gerichtsverfahren gehen zunächst im Konzern-Sinne aus, später werden die Gerichte hellsichtiger. Am Ende untersagt das Oberverwaltungsgericht Münster vorläufig die Rodung des Waldes. Dazwischen, im Oktober 2018, die gewaltsame Räumung durch die Polizei, die Zerstörung der Baumhäuser. In diesen Zeitraum fällt auch der tödliche Unfall des Video-Bloggers Steffen Meyn, den der Film recht lapidar abhandelt. Höhepunkt schließlich die Demonstration von etwa 50.000 Menschen im Oktober 2018.
Der Film erzählt am Beispiel von vier Protagonist*innen. Der Baumbesetzer Clamsy harrt bis zum Schluss aus; kein hartgesottener Linksradikaler, sondern ein sanftmütiger junger Mann, der weiß, was er will. Antje Grothus, Aktivistin einer Bürgerinitiative, wird in die Kohlekommission nach Berlin berufen. Lars Zimmer harrt im leeren Dorf Immerath mit seiner Familie aus; auf seiner Haustür steht groß das Wort „Heimat“. Und der Waldpädagoge Michael Zobl wird zu einem Wortführer.
Erzählt wird mit dichter Kameraarbeit, nahe an den Protagonist*innen. Drohnenbilder von der Monstrosität des Tagebaus und TV-Ausschnitte ergänzen die Geschichte. Kein Kommentar, es sprechen die Aktivist*innen selbst. Und die Bilder. Manchmal sind es Kleinigkeiten, die emotionale Wucht erzeugen. Etwa als Demonstrant*innen versuchen, Polizist*innen zu überzeugen: „Nur weil Sie eine Uniform tragen, haben Sie doch auch einen Kopf zum Denken.“ Als am Rande der Großdemo ein Demonstrant ein Bäumchen pflanzt, wirft ihm eine Polizistin eine Wasserflasche zu, um den Steckling zu wässern.
Die rote Linie, von der der Titel spricht, ist mehrdeutig. Es ist die Grenze, ab der die Umweltschützer*innen die Rodung begrenzt sehen wollen. Es ist die Grenze, die die Polizei zwischen sich und die Demonstrant*innen zieht. Und es ist die Grenze für die CO2-Belastung, wie sie die Pariser Klimaziele vorgeben.
Befürworter der Politik der RWE kommen im Film kaum vor. Lediglich in einer Sequenz sieht man Gewerkschafter*innen von IG BCE und ver.di in einer Fußgängerzone Flyer verteilen und hört sie ihre Argumente vortragen, die Versorgung mit Strom könne nur so gesichert werden. Das wäre gewiss eine politische Debatte wert, ist aber nicht Thema des Films. Es fällt allerdings auf, dass unter den Aktivist*innen sehr wenig politisch diskutiert wird, jedenfalls in den Ausschnitten, die der Zuschauer zu sehen bekommt.
„Die rote Linie“ ist ein klassischer Bewegungsfilm, der auf Solidarität und emotionale Beteiligung zielt; diese Aufgabe löst er glänzend. Eine solche Perspektive ist legitim und wird gebraucht. Auf eine politisch-analytische und filmische Darstellung des Konflikts warten wir noch.
Der Dokumentarfilm „Die rote Linie“ erscheint am 16. August bei mindjazz pictures als DVD.