Der deutsche Dokumentarfilm beleuchtet die drastischen Folgen der europäischen Abschottungspolitik und die besondere Rolle Deutschlands bei diesem Paradigmenwechsel. Der Film begleitet eine Rettungsmission im Mittelmeer, zeigt die katastrophalen Zustände in Lagern für Geflüchtete und gibt Menschen eine Stimme, die den lebensgefährlichen Weg nach Europa überlebt haben.
Migration sei „die Mutter aller Probleme“: Die Behauptung aus dem Jahr 2018 stammt nicht von einem AfD-Mitglied, sondern von Horst Seehofer. Der frühere CSU-Vorsitzende war damals Bundesinnenminister. Der vollständige Wortlaut war „Die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land“, aber die Kernaussage hat sich festgesetzt, obwohl sie längst wissenschaftlich widerlegt ist. Seehofer hat daher einen ordentlichen Anteil am heutigen Status quo: Europa macht die Grenzen dicht und verkauft das als Beitrag zur Sicherheit. Deutschland ist in dieser Hinsicht Vorreiter; und das als ein Land, das Aufschwung und Wohlstand zu einem nicht unerheblichen Anteil zugewanderten Arbeitskräften verdankt. Die werden angesichts des demografischen Wandelns heute womöglich noch dringender als damals benötigt, aber jetzt heißt es: Ihr müsst leider draußen bleiben.
Plädoyer für das Grundgesetz
Mit ihrem ersten gemeinsamen Langfilm dokumentieren Max Ahrens und Maik Lüdemann, wie sich die Stimmung im Land seit Angela Merkels legendärer Zuversicht im Jahr 2015 – „Wir haben so vieles geschafft. Wir schaffen das!“ – so radikal drehen konnte. Angesichts des bestürzenden Tempos, in dem sich rechtsextremistische Haltungen in der Mitte der Gesellschaft eingenistet haben, wollten die beiden Filmemacher beleuchten, welche Folgen die europäische Abschottungspolitik hat; für Geflüchtete, aber auch für Deutschland. „Kein Land für Niemand“ ist ohne Förder- oder Fernsehgelder zustande gekommen. Der Film wurde von Sea-Eye, Sea-Watch, United4Rescue, German Doctors, Pro Asyl und dem Mennonitischen Hilfswerk finanziert, ist aber trotzdem kein PR-Projekt dieser Menschenrechts- und Hilfsorganisationen. Ein Auftragswerk für einen ARD-Sender würde auch dank der professionellen Machart und der durchaus ausgewogenen Gesprächskultur kaum anders aussehen. Zwar kommen Mitglieder gerade von Sea-Eye und Pro Asyl ausführlich zu Wort, aber abgesehen von den Rechtsextremisten auch jene, die für den Stimmungsumschwung zumindest mitverantwortlich sind.
Dass die Zeug*innen der Anklage deutlich mehr Redezeit bekommen, liegt in der Natur der Sache, denn Partei ergreift „Kein Land für Niemand“ durchaus, aber fürs Grundgesetz: Deutschland ist einer der wenigen Staaten weltweit, in denen das Recht auf Asyl in der Verfassung verankert ist. Die Bestrebungen, dieses Grundrecht auszusetzen, sind also faktisch ein Verfassungsverstoß. Die juristischen Aspekte bilden jedoch nur eine Nebenebene. In erster Linie geht es um Menschen, und deshalb beginnen Ahrens und Lüdemann ihren Film mit einer Rettungsaktion im Mittelmeer. Später zeigen sie, welch’ perfide Rolle Libyen in den Plänen der EU spielt, als ein Schiff der Küstenwache ein Schlauchboot voller Geflüchteter in höchste Bedrängnis bringt.
Den politischen Teil des Films, der abgesehen von Schrifttafeln zu Beginn und am Schluss ohne Kommentar auskommt, bestreitet Erik Marquardt. Er sitzt für die Grünen im Europäischen Parlament und weiß, wovon er spricht, weil er als Fotojournalist viele Male über die Gefahren, die Gewalt und die Schikanen berichtet hat, denen die Flüchtlinge auf den verschiedenen Routen ausgesetzt sind. Entsprechende Bilder zum Beispiel aus Ceuta, wo Uniformierte am Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Exklave hemmungslos mit Schlagstöcken auf Menschen einprügeln, sind auch aufgrund einer passenden Musik nur schwer zu ertragen. Für die wissenschaftlichen Ergänzungen sorgen klug ausgewählte Sachverständige aus den Bereichen Politik, Migrationsforschung und Ökonomie.
Festung Europa
Die erschütterndsten Aussagen stammen jedoch von den Betroffenen. Der Kontrast zur parlamentarischen Diskussion über das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) könnte kaum größer sein. Vordergründig geht es dabei um mehr Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten und eine bessere Verteilung der Geflüchteten. Tatsächlich soll die Zahl der Asylsuchenden nach Möglichkeit drastisch reduziert werden. Für die sogenannten Ankerzentren an den EU-Außengrenzen prognostiziert ein Politikwissenschaftler Zustände wie im griechischen Flüchtlingslager Moria, über das Lüdemann bereits 2016 berichtet hat. Zu den vielen weiteren Facetten des Themas gehören die Kriminalisierung von Seenotrettung, die Rolle der Medien beim zunehmenden Schwarzweißdenken in der Gesellschaft sowie nicht zuletzt die Aufklärung über die wahren Ursachen der aktuellen Misere: Das Land ist jahrelang kaputt gespart worden, und jetzt werden die Flüchtlinge zum Sündenbock gemacht.
„Kein Land für Niemand – Abschottung eines Einwanderungslandes“: Deutschland 2025. Buch und Regie: Max Ahrens und Maik Lüdemann. Kinostart: 2. Oktober 2025

