Filmtipp: Solidarity

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Vordergründig ist „Solidarity“ ist eine Verbeugung vor all’ jenen, die sich beruflich oder ehrenamtlich um Geflüchtete kümmern. Mindestens genauso wichtig waren dem Schweizer Dokumentarfilmer David Bernet jedoch grundsätzliche Aspekte des Themas, die schließlich in eine entscheidende Frage münden: Wie viele Menschen kannst du umarmen?

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“: So beginnt Artikel 1 des Grundgesetzes. „Unantastbar“, das bedeutet auch: unteilbar. Oder, um es sinngemäß mit George Orwell zu sagen: Alle Menschen sind gleich; niemand ist gleicher als andere. Solidarität hingegen ist durchaus teilbar, doch mit dieser Frage befasst sich David Bernet erst später. Sein Dokumentarfilm ist in erster Linie eine Verbeugung vor all’ jenen, die sich des Schicksals der vielen Millionen Geflüchteter annehmen, zuvorderst der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), Filippo Grandi, sowie eine polnische Menschenrechtsaktivistin und Migrationsberaterin.

Die Reise, auf die der Schweizer Regisseur sein Publikum mitnimmt, beginnt im Herbst 2021 an der polnischen Grenze zu Belarus. Hier suchen Verzweifelte Zutritt zu jenem Gelobten Land, als das ihnen die Europäische Union offenbar erscheint, aber die EU will sie nicht. Polen errichtet einen vier Meter hohen Zaun, die EU unterstützt diese Abschottung. Es geht um den Schutz der Außengrenze, humanitäre Hilfe wird unter Strafe gestellt. Bernet zeigt Gräber gestorbener Geflüchteter, anstelle von Namen steht auf manchen „N.N.“. Wenige Monate später verändert sich die Weltgeschichte: Russland überfällt die Ukraine, Millionen fliehen Richtung Westen, wo sie mit offenen Armen empfangen werden. Gerade das christlich geprägte Polen erweist sich als Hort der Nächstenliebe.

Damit ist der Film zwar nicht bei seinem eigentlichen Thema, aber doch bei einer Diskrepanz, die schließlich von Grandis Stellvertreterin angesprochen wird. Zu Beginn sagt Bernet: „Die Art und Weise, wie wir mit der Not von Fremden umgehen, offenbart unsere Menschlichkeit, heißt es. Und die Stärke einer Gemeinschaft zeige sich darin, wie sie das Ideal der Solidarität verwirklicht.“ Sie sei überrascht gewesen, stellt Gillian Triggs sinngemäß fest, mit welcher Großzügigkeit Europa vier bis fünf Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen habe, während für ein paar tausend Menschen aus Afrika angeblich kein Platz sei. Ein Freund Bernets aus dem Libanon, der Philosoph Bashshar Haydar, spricht von Doppelmoral, hat aber auch eine plausible Erklärung für diesen vermeintlichen Widerspruch: Je größer die Verbindung, desto eher sei der Mensch bereit, Opfer zu bringen. Die Ukraine befindet sich zwar im ehemaligen Ostblock, zählt aber zum europäischen Kulturkreis.

Die Erkenntnis führt Bernet zu einem weiteren Aspekt, der eine ähnlich erhebliche Unwucht offenbart: Die reichen Länder im Norden tun gern so, als müssten sie sämtliche Geflüchteten dieser Welt beherbergen, dabei suchen die meisten erst mal Schutz in einem Nachbarland. Aus diesem Grund leben im Libanon und in Jordanien, wie der Film mit den Bildern einer riesigen Zeltstadt vor Augen führt, fast ebenso viele Fremde wie Einheimische. Bernet unterhält sich mit einem Mann, der mit seiner Familie bereits seit zwölf Jahren in dem Lager ist.

Erst spät und etwas zu kurz kommt ein Aspekt zur Sprache, der aus Sicht vieler Helfender jedoch ganz entscheidend ist. Der Diskurs über Flüchtlinge, sagt Bernet, sei in vielen Ländern „toxisch“ geworden: weil die staatlichen Strukturen zunehmend überfordert sind. Marta Siciarek, die Polin, kritisiert, es werde zu wenig für die „systemische Integration“ getan. Die Regierungen, stellt Bernet fest, verließen sich viel zu sehr auf die ehrenamtliche Hilfe, und fragt rhetorisch: „Wie viele Menschen kannst du umarmen?“ Wer anderen in seiner Freizeit beisteht, womöglich nach Feierabend, ist irgendwann erschöpft; Solidarität ist endlich.

Vermutlich gilt das auch für Marta, aber sie lässt sich das nicht anmerken. Ihr Leben hat sich 2022 nicht nur wegen des Kriegs in der Ukraine geändert: Damals wurde bei ihr ein Tumor entdeckt. Sie ist die Heldin dieses Films. Vielleicht hätte sich Bernet noch stärker auf ihre Arbeit konzentrieren können. Stattdessen zeigt er neben einem Rückblick auf die historischen Rahmenbedingungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Gründung der Vereinten Nationen führten, immer wieder zu Diskussionen, Konferenzen und Ansprachen. Die sind natürlich wichtig, zumal gerade Grandi unermüdlich für Solidarität mit den Geflüchteten wirbt, aber keine der Personen vor der Kamera kommt dem Publikum so nahe wie Marta. Sein persönliches Schlusswort hat Bernet bereits zur Einführung vorweggenommen: „Durch Solidarität wachsen wir über uns selbst hinaus. Wir zeigen, wer wir sind und wer wir sein wollen.“


„Solidarity“, Deutschland/Schweiz 2025. Buch und Regie: David Bernet. Kinostart: 25. September 2025.

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