Türkei: Von einem der auszog, die sozialen Medien das Fürchten zu lehren
Die Öffentlichkeits-Strategie des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan heißt Peitsche und Zuckerbrot, und sie ist aufgegangen. Das zeigt der Erfolg seiner islamischen AK-Partei bei den Kommunalwahlen. Weil der Kurznachrichtendienst Twitter immer wieder dazu beigetragen hatte, Korruptionsvorwürfe gegen Erdogan zu verbreiten, ließ er ihn vor der Wahl kurzerhand abschalten.
Dass das Verwaltungsgericht in Ankara die Aufhebung der rechtswidrigen Sperre von Twitter verfügte, kümmerte den zunehmend autokratischen Regierungschef nicht. Stattdessen verbot er gleich noch Youtube. Erst dem Verfassungsgericht folgte er widerstrebend. Twitter wurde wieder geöffnet, Youtube blieb zunächst geschlossen. Auf der Videoplattform waren die für ihn belastenden Telefonmitschnitte veröffentlicht worden. „Twitter und solche Sachen werden wir mit der Wurzel ausreißen. Was dazu die internationale Gemeinschaft sagt, interessiert mich überhaupt nicht“, hatte Erdogan getönt. Sein Amt nannte Twitter „parteilich“. Der Dienst mit dem Vögelchen werde systematisch zum Rufmord gegen die Regierung eingesetzt und habe Gerichtsbeschlüsse missachtet.
Erdogans eiserne Faust ist im eigenen Lager umstritten. Staatspräsident Abdullah Gül twitterte einen Tag nach dem Verbot: „Es ist nicht zu billigen, dass soziale Medienplattformen vollständig gesperrt werden“. Das Youtube-Verbot rügte er ebenfalls – über Youtube. International stieß der Rundumschlag des „neuen Sultans“ in Ankara auf Unverständnis. Die EU-Kommissarin Nellie Kroes nannte das Twitter-Verbot „grundlos, zwecklos und feige“. Es werde als Zensur aufgefasst. So klare Worte scheute die stellvertretende deutsche Regierungssprecherin Christiane Wirtz. Zensur sei das nicht, wiegelte sie in Berlin ab. Stattdessen grummelte Wirtz wachsweich: „Es entspricht nicht unserer Vorstellung von Meinungsfreiheit, irgendwelche gearteten Kommunikationswege zu verbieten oder auszuschließen.“ Für Renate Schröder von der Europäischen Journalisten-Föderation (EFJ) in Brüssel zeigen die Verbote, „wie absurd die Situation geworden ist“. Mit ihrer „antidemokratischen“ Medienzensur stelle sich die türkische Regierung in eine Reihe mit den „am meisten repressiven Regimen in der Welt“.
Angesichts der Medienkonzentration und der Regierungsnähe der meisten türkischen Zeitungen und Sender spielen Twitter, Facebook und Co. eine besonders wichtige Rolle. Die Türkei steht mit einem Twitter-Nutzeranteil von 4,1 Prozent weltweit auf Platz vier; Deutschland liegt mit 1,3 Prozent auf dem 16. Platz. Gleich nach Erdogans Verboten begann denn auch eine Art Hase-und-Igel-Rennen bei deren Umgehung. Sobald über Proxy-Server und DNS-Nummern weiter gezwitschert wurde, sperrte Ankara diese Schleichwege. Wie wichtig unabhängige Internet-Medien sind, bestätigten Zahlen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks RTÜK: Demnach entfielen 89,52 Prozent der Wahlkampf-Sendezeit in den staatlichen Medien auf die AKP. Die Oppositionsparteien CHP und MHP kamen auf 4,96 und 5,29 Prozent. Die Kurdenparteien BDP und HDP waren mit 0,22 Prozent fast nicht wahrnehmbar.
Erdogans Nervosität hat einen weiteren Grund: Vor einiger Zeit ist zwischen der AKP und der islamischen Bewegung des Predigers Fetullah Gülen ein langjähriges Bündnis in offene Feindschaft umgeschlagen. Die AKP wittert nun Gülen-Anhänger hinter den Enthüllungen. Dass vor der Wahl einige der über 50 inhaftierten regierungskritischen Publizisten freigelassen wurden, steht nur scheinbar im Widerspruch zur Maulkorb-Praxis.
Zuerst kamen Journalisten und Offiziere aus dem „Ergenekon“-Prozess frei. Ihnen war eine Verschwörung gegen die Regierung vorgeworfen worden, als sich diese noch mit Gülen einig war. Neue Allianzen deuten sich an. Das Vorgehen von Gülen-Anhängern in der Justiz gegen Laizisten und Kemalisten wird korrigiert. Formaler Anlass für die Freilassungen war ein neues Gesetz, nach dem eine Untersuchungshaft nicht länger als fünf (!) Jahre dauern darf.
Kurz vor der Wahl gab es dann ein weiteres Zuckerbrötchen, diesmal für die Kurden: Sechs der im Prozess wegen Mitgliedschaft in der KCK (Gesellschaft der Gemeinschaften Kurdistans) inhaftierten kurdischen Journalisten wurden frei gelassen. Das löste aber keine Wählerwanderung zur AKP im kurdischen Südosten aus. Die pro-kurdische BDP verteidigte die Rathäuser in großen Städten. Der Sprecher des kurdischen Informationsbüros Civika Azad in Frankfurt, Devris Cimen, wies auch darauf hin, dass Chefredakteure und Organisatoren nicht freigelassen wurden. Nach Angaben der türkischen Journalistengewerkschaft TGS sitzen 44 kurdische und linke Kollegen weiter in Haft.
Partnerschaften für Verhaftete
Beim jüngsten Prozesstermin in Silivri bei Istanbul Anfang März waren die Angeklagten erst gar nicht erschienen. Die EFJ wird ihre seit vier Jahren laufende Kampagne für die politisch verfolgten Kollegen fortsetzen. Mehrere europäische Journalistenorganisationen haben Partnerschaften für Redakteurinnen wie die zu lebenslanger Haft verurteilte Füsun Erdogan übernommen.
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