Netzwerk Recherche: streitbar und kreativ

Screenshot Netzwerk Recherche

Die Pandemie prägte nicht nur die Inhalte, sondern auch die Form der Jahrestagung des Netzwerks Recherche (nr), die diesmal nicht vor Ort in Hamburg, sondern im Internet stattfand. Unter dem Motto „Corona und wir – Wie das Virus unsere Arbeit verändert“ ging es am vergangenen Wochenende vor allem um den Hype von Wissenschafts- und Datenjournalismus in der Pandemie, aber auch um innovative Formate und Medienprojekte, die aus der Krise heraus entstanden.

Die Teilnehmenden diskutierten in den Webinaren auch über prekäre Arbeitsverhältnisse und wirtschaftliche Probleme, die den Journalismus in der Corona-Pandemie beuteln. Dabei überwogen optimistische und konstruktive Töne. Wie Medien „innovativ durch die Krise“ kommen, wurde an innovativen Projekten und Formaten verdeutlicht.

Im April warb Hostwriter.org noch um Spenden, im Mai startete das Team sein neues Projekt. Wegen der Reisebeschränkungen im Zuge der global verheerenden Pandemie werde die internationale Korrespondententätigkeit erschwert und Redaktionen suchten für ihre Auslandsberichterstattung lokale Journalist*innen, erläuterte Tabea Grzeszyk, Mitbegründerin des stiftungsfinanzierten Netzwerks. Mit Hilfe eines 3000-Euro-Stipendiums der Augstein-Stiftung entwickelte sie mit ihrem Team den „Covid-19-Collaboration-Wire“ – eine Plattform, die seit dem 29. Mai Journalist*innen aus dem Hostwriter-Netz an Redaktionen vermittelt. Der „Guardian“ habe so z.B. Kontakt zu Reporter*innen für eine Europa-Reihe „Corona im Alltag der Menschen“ erhalten. Während das Hostwriter-Netz für die Nutzer*innen kostenlos ist, soll der erfolgreiche Service für die Redaktionen aber in „Richtung Bezahlmodell“ weiterentwickelt werden, denn: “Langfristig kann man sich nicht allein auf die Stiftungsfinanzierung verlassen“, so Grzeszyk.

Stiftungen mussten Förderungen einschränken

Knapp 40 Prozent der etwa 23 000 Stiftungen in Deutschland mussten ihre Förderungen wegen der krisenbedingten Lage auf dem Kapitalmarkt schon in diesem Jahr einschränken, berichtete Stephanie Reuter. Sie ist Geschäftsführerin der Rudolf Augstein Stiftung, die zusammen mit 100 weiteren Stiftungen einen Aufruf startete, um geförderte Initiativen und neue Projekte in der Krise zu unterstützen. Reuter, die sich im Forum gemeinnütziger Journalismus auch für eine Änderung der Abgabenordnung einsetzt, rät zu hybriden Finanzierungsmodellen –  gewinnorientiert und non-profit – wie es Hostwriter jetzt anstrebt.

Dass es nicht nur im alternativen, sondern auch im etablierten Medienspektrum Kreativität gibt, verdeutlichten Beispiele aus dem NDR, wo im Zuge der Pandemie neue Gesprächs-Formate entwickelt wurden. Beim verunsicherten Publikum punktete der Sender mit verständlich vermittelter wissenschaftlicher Expertise. Der Podcast mit dem Virologen Christian Drosten, den Anja Martini moderiert, ist bereits für den Grimme-Preis nominiert. Erfolgreich ist auch der „After-Corona-Cub“ von Anja Reschke, die mittlerweile 35 Gespräche mit Fachleuten über die Folgen der Coronakrise geführt hat – in TV, Radio, Podcast und auf YouTube. Nur als sich die streitbare Journalistin mit Extremismusforscherin Julia Ebner unterhielt, hagelte es böse Kommentare „aus der rechten Szene“, die auf „Triggerwörter“ im Internet reagierte. Ebner hatte gesagt, Verschwörungstheoretiker*innen und Extremist*innen nutzten die Ungewissheit während der  Corona-Pandemie aus, um Informationslücken mit Falschmeldungen zu füllen.

Neue Aufmerksamkeit für Nerds und Exoten

„Wir sind aus der Nerd-Ecke rausgekommen“, beschreibt Christian Endt von der „Süddeutschen Zeitung“ die Aufmerksamkeit, die Datenjournalist*innen in Redaktion und Öffentlichkeit in letzter Zeit bekommen haben. Beiträge zu Corona seien die meistgelesenen gewesen und auch lange Stücke hätten bei der „Verweildauer erstaunlich gute Werte“. Abo- und Zugriffszahlen stiegen. Anna Behrend ist Redakteurin der „Ein-Frau-Digital-Abteilung“ bei „NOZ Medien“ und „mh:n Medien“, die 42 norddeutsche Zeitungen – vor allem digital – mit Corona-Grafiken und einordnenden Beiträgen versorgt. Die Nachfrage nach ihrer Expertise sei groß gewesen und da schätzte sie die Kooperation mit Fachkolleg*innen außerhalb des eigenen Hauses. Die beiden beklagten genauso wie Björn Schwentker, der als freier Datenjournalist vor allem für den NDR arbeitet, ungenaue und fehlende Zahlen zum Coronavirus. Da das Robert-Koch-Institut diese nur als Grafiken und Texte bereitstellte, forderten 45 Datenjournalist*innen aus ganz Deutschland in ihrem „Open Corona Data Appell“ offene, maschinenlesbare Daten, die sie selbst weiter auswerten können. Sei es, um das Infektionsgeschehen besser zu verstehen oder die Folgen der Pandemie für Frauen, Kinder, Unternehmen genauer zu analysieren.

Wissenschaftsjournalist*innen sind plötzlich keine „Exoten“ mehr, kommen aus der Nische heraus und werden von Kolleg*innen in anderen Ressorts gefragt, was der „R-Wert“ bedeutet. Auch wenn Virologen wie Christian Drosten in der Coronakrise eine „meinungsbildene Kraft entfaltet“ hätten, sei es doch wichtig, dass Fachjournalist*innen mit ihrer Expertise „den Richtigen das Mikrofon hinhalten“, so Volker Stollorz, Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Science Media Center (SMC), denn: „Einige wissen was und andere tun nur so.“ Das sei anders als im politischen Meinungsstreit. Als alle Parteien die Regierungslinie bei der Pandemiebekämpfung unterstützten, suchten Journalist*innen nach oppositionellen Positionen. Sie drifteten ins Internet ab und hätten so zum Beispiel einen Herrn Wodarg gefunden. Bei anderen Wissenschaftsthemen wie Glyphosat oder Stickstoffausstoß/Dieselskandal würden „einfach die üblichen Lobbyverbände abtelefoniert“.

Wissenschaftsjournalismus erfordere besonders aufwändige Recherchen, sagte Professor Holger Wormer, der das Fach an der TU Dortmund lehrt. Befunde seien immer nur vorläufig und müssten kompetent auf ihre Evidenz geprüft werden. Bei Wissenschaftsredaktionen dürfe man nicht weiter sparen, sondern müsse – etwa über die Gremien im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – politischen Druck aufbauen. Dass sich da schon einiges ändert, berichtete Wissenschaftsjournalistin Anja Martini, die beim NDR Info-Radio arbeitet: „Wegen Corona ist es jetzt viel leichter, wissenschaftliche Themen im Aktuellen zu platzieren.“ Man könne bei jedem Thema – ob Finanzen oder Klima – einen wissenschaftlichen Hintergrund finden und diese Expertise erhöhe die Glaubwürdigkeit der Medien. Das erleichtert ihnen dann auch, ihren Informationsauftrag zu erfüllen, der systemrelevant für die Demokratie ist, denn: „Je desinformierter die Öffentlichkeit ist, desto toxischer wirken Fake News“, warnte Jens Rehländer, Experte für Wissenschaftskommunikation.

Leuchttürme journalistischer Recherche

Auf den Negativpreis „Verschlossene Auster“ verzichtete das Netzwerk Recherche diesmal und verlieh stattdessen zwei „Leuchttürme“. Die Auszeichnung für „besondere publizistische Leistungen“ ging an Julian Feldmann, Anton Maegerle und Andrea Röpke, die den „Leuchtturm“ schon zum zweiten Mal erhielt. Alle drei recherchieren seit Jahren unermüdlich in der immer gefährlicheren rechten Szene und liefern wertvolle Informationen zu Verflechtungen von Personen und Strukturen. ZDF-Redakteurin Ilka Brecht sagte in ihrer Laudatio: „Sie laufen eine Marathonstrecke – wohlgemerkt als freie Journalist*innen. Wir übernehmen den Staffelstab mitunter erst auf den letzten hundert Metern und freuen uns über die Exklusivmeldung.“ In der heiße es dann lediglich: „Nach Recherchen von Frontal 21“.

Einen Sonder-“Leuchtturm“ erhielt das gemeinnützige Science Media Center (SMC) in Köln. “Für euer Engagement, dafür dass ihr brennt für Wissenschaft und dafür, verlässliches Fachwissen in die Berichterstattung zu bringen, jeden Tag.“ Mit diesen Worten würdigte die freie Medizinjournalistin Nicola Kurth das SMC. Gerade in der Coronakrise bietet es vielen (nicht nur) Wissenschaftsjournalist*innen eine Orientierung bei der Einordnung von Statistiken und Studien zu Covid 19 und stellt in Online-Pressekonferenzen den Kontakt zu Forscher*innen her.

 

 

 

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