In der deutschen Medienlandschaft gilt die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ fast schon als Solitär. Wo andere Qualitätsblätter schwächeln, setzt das Blatt aus dem Hause Holtzbrinck selbst unter den Bedingungen der Pandemie seine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte fort. Der promovierte Jurist Rainer Esser, Absolvent der Deutschen Journalistenschule München, ist seit 1999 Geschäftsführer des Zeit-Verlags. M online sprach mit ihm über die Gründe dieses Erfolgs.
M | Herr Esser, die IVW- Auflagenstatistik für das 2. Quartal 2020 weist fast nur Verlierer aus, aber eine strahlende Gewinnerin: „Die Zeit“. Was machen Sie besser als andere?
Rainer Esser | Die Auflage der „Zeit“ ist im Vorjahresvergleich im Abonnement und Einzelverkauf um 11,5 Prozent gestiegen. Der außergewöhnliche Anstieg der Auflage auf insgesamt 522.000 liegt daran, dass Corona uns zu einem Zeitpunkt getroffen hat, in dem wir im ganzen Haus besonders kraftvoll unterwegs waren. Wir haben seit Jahren in die Redaktionen und ins Marketing investiert und hatten Print und Online noch nie so viele Redakteure wie jetzt zum März, als Corona startete. Insgesamt sind bei der „Zeit“ und bei Zeit Online derzeit 325 Redakteurinnen und Redakteure tätig. Außerdem haben wir eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen Redaktion und Verlag, zwischen Print und Online, sodass wir die stark gestiegene Online-Reichweite auch sehr gut in neue Abonnements überführen konnten.
Haben sie – abgesehen vom Übergang zum Home-Office – auf die Krise mit speziellen Maßnahmen reagiert? Gab/gibt es Kurzarbeit im Zeit-Verlag?
Bereiche wie Anzeigen, Reisen, Konferenzen oder Recruiting leiden durch die Krise teilweise stark. In diesen Bereichen haben wir Kurzarbeit eingeführt, in geringem Maße auch in der Printredaktion – dort wurde die Arbeitszeit für zwei Monate auf 90 Prozent reduziert. Grund dafür waren gesunkene Umfänge, außerdem werden bestimmte Speziale nicht wie geplant erscheinen. Nach zwei Monaten wurde die Arbeitszeit der Printredaktion wieder auf 100 Prozent erhöht. Insgesamt hat uns das Instrument der Kurzarbeit erlaubt, Kündigungen zu vermeiden.
522.000 Verkaufsauflage, davon 26 Prozent digital, das sind 4,2 Prozent Plus. Nicht nur die Boulevardblätter sind gebeutelt in Corona-Zeiten, auch die überregionalen Qualitätszeitungen schwächeln. Welche Perspektive geben Sie Print? Die „taz“ will ja ab 2022 nur noch am Wochenende in gedruckter Form erscheinen…
Wir unterscheiden nicht mehr zwischen Print und Online. Wir unterscheiden zwischen der Wochenausgabe und dem ständig aktualisierten Online-Angebot. Beide ergänzen sich optimal. Für uns ist wichtig, dass Reichweite und Auflage wachsen. Ob das auf Papier oder digital stattfindet, ist nebensächlich.
Gibt es gelegentlich Auflagenausschläge? Zum Beispiel im Kontext der sehr kontroversen Seenothilfen-Debatte („Oder soll man es lassen?“)?
Nein, negative Ausschläge haben wir nicht. Es gibt aber durchaus Kontroversen mit und unter Lesern. Das gehört zu einer Qualitätszeitung, dass sie nicht das bringt, was alle ihre Leserinnen und Leser erwarten, sondern dass sie immer wieder ihre Leser überrascht und aufrüttelt. Generell ist die Auflage der „Zeit“ seit 20 Jahren ständig gestiegen, vor allen Dingen im Abonnement. Und seit Corona haben wir auch im Einzelverkauf am Kiosk ein Plus zwischen 15 und 20 Prozent.
Welche Rolle spielt in diesem Kontext Ihre Regionalisierungsstrategie?
Unsere Regionalausgaben für Hamburg, Ostdeutschland, die Schweiz und Österreich entwickeln sich allesamt positiv – und das schon über Jahre hinweg. Dadurch sind sie für uns ein drittes Standbein geworden, neben der Hauptausgabe und Zeit Online. Natürlich hat uns die Regionalisierungsstrategie auch geholfen, neue Anzeigenmärkte zu erschließen. Selbst in Ostdeutschland steigt die Auflage inzwischen analog zur Gesamtauflage der „Zeit“. In Österreich, wo wir über die letzten 15 Jahre die stärksten Auflagen-Zuwächse erlebt haben, zeigt die aktuelle CAWI-Print-Studie, dass auch unsere Reichweite stetig wächst. 114.000 Menschen lesen „Die Zeit“ dort wöchentlich.
Viele Verlage suchen ihr Heil in partieller Kooperation mit der Konkurrenz – zum Beispiel im Vertrieb oder bei der Anzeigenvermarktung. FAZ und Süddeutsche wollen jetzt überregionale Anzeigen gemeinsam vermarkten. Das Kartellamt hat unter Vorbehalten Gemeinschaftsunternehmen genehmigt. Wie ist da Ihre Position? Sie haben doch auch gelegentlich eine Kooperation mit „Süddeutscher Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und „Handelsblatt“ ins Gespräch gebracht. Woran scheiterte das bisher?
Wir kooperieren schon seit vielen Jahren sehr eng mit dem „Handelsblatt“, mit der „Wirtschaftswoche“ und dem „Tagesspiegel“, und das funktioniert ausgezeichnet. Und wir sind mit der „FAZ“ und der „Süddeutschen“, dem „Handelsblatt“, der „Wirtschaftswoche“ und der „Zeit“ Gesellschafter der iq digital – das ist unser gemeinsamer Online-Vermarkter, der sehr gut funktioniert und der im Umsatz stetig wächst. Dass die „Süddeutsche“ jetzt erst mal mit der „FAZ“ auch einen eigenen gemeinsamen Printvermarkter bildet, ist eine gute Idee. Und die iq media, über die „Zeit“, „Tagesspiegel“, „Handelsblatt“ und „Wirtschaftswoche“ im Print vermarktet werden, steht gern für Gespräche zur Verfügung, wenn das Bündnis zwischen „FAZ“ und „Süddeutscher Zeitung“ steht. Die Zeichen der Zeit stehen klar auf Kooperationen in der Vermarktung.
Die Verlage haben 2018 bei der Bundesregierung erfolgreich für ein Leistungsschutzgesetz lobbyiert. Das Gesetz selbst war dann weniger erfolgreich. Jetzt kündigt Google Lizenzverträge für die Nutzung qualitativ hochwertiger Inhalte an. Auch die „Zeit“ macht da mit. Was reizt Sie an diesem Deal?
Wir sind stetig gewachsen in den letzten 20 Jahren, weil wir immer auf Kooperationen setzen. Wir machen nie etwas gegen jemanden, sondern wir machen immer neue Projekte mit Partnern zusammen. Und Google ist ein sehr starker Technologiepartner, der allen Zeitungen und Zeitschriften in ihren Online-Angeboten sehr viel Reichweite bringt. Wir profitieren auch bei Zeit Online hiervon, und wenn Google jetzt ein neues News-Angebot aufsetzt und Partner dazu einlädt, dann wären wir töricht, wenn wir da nicht mitmachen würden.
Welche sonstigen Geschäftsfelder sind für den Zeit-Verlag bedeutsam? Magazine (auch Corporate Publishing), Reisen, Veranstaltungen, Podcasts, Konferenzen…
Unser mit großem Abstand wichtigstes Standbein ist der Vertriebsumsatz, das heißt die Auflage der „Zeit“ und die Auflage unserer Magazine – „Zeit Wissen“, „Zeit Geschichte“, „Zeit Campus“, „Zeit Leo“ bis hin zur „Weltkunst“ und den Sprachmagazinen des Spotlight-Verlages. Dann kommt als zweite Säule der Anzeigenumsatz, der über die Jahre stabil ist – Online gewachsen, Print ein bisschen kleiner geworden, aber in der Summe stabil. Und bei den neuen, weiteren Geschäften ist der Bereich Recruiting über unsere Tochter E-Fellows sehr interessant, auch der Bereich Konferenzen. Und E-Commerce im Zeit Shop und E-Learning in der Zeit Akademie haben in diesem Jahr mit Steigerungsraten von 50 Prozent zugelegt. Auch auf Zeit Reisen sind wir sehr stolz. Allerdings ist im Augenblick das Reisegeschäft aus naheliegenden Gründen nicht gerade sehr dynamisch unterwegs.
Ursprünglich wollte die Große Koalition 40 Millionen Euro für die Förderung des Pressevertriebs lockermachen. Aber Anfang Juli beschloss der Haushaltsausschuss des Bundestags überraschend 220 Mio. Euro Medienförderung, diesmal zweckgebunden für die digitale Transformation der Verlage. Halten Sie sowas für sinnvoll?
Es ist eine gute Idee, wenn die Regierung die Verlage bei ihrer digitalen Transformation unterstützt, denn einigen geht es ja nicht so ordentlich. Und wenn sie da etwas Hilfestellung bekommen für bestimmte abgeschlossene Projekte, dann halte ich das für sinnvoll. Eine Förderung von Journalismus muss allerdings vollkommen ausscheiden. Es darf nicht sein, dass staatliche Stellen Journalismus direkt subventionieren. So etwas darf es nicht geben.
Seit der Corona-Pandemie wissen wir: Qualitätsjournalismus ist „systemrelevant“. Aber wie soll man ihn fördern? Eine Unterstützung nach dem Gießkannenprinzip scheidet wohl eher aus. Andere medienpolitische Akteure wie zum Beispiel die Initiative Non-Profitjournalismus, (an der sich auch die dju in ver.di beteiligt) plädieren eher dafür, gezielt gemeinnützigen Journalismus zu ermöglichen. Was halten Sie davon?
Ich stimme Ihnen zu, dass Qualitätsjournalismus systemrelevant und ungeheuer wichtig ist – egal, ob er nun im Radio, im Fernsehen oder Print und digital oder per Podcast im Audio stattfindet. Nur: Dieser Qualitätsjournalismus muss sich durch seine Qualität, durch seine Einzigartigkeit, durch seine überraschenden Themen selbst ernähren. Er darf nie am Tropf hängen von NGOs, Stiftungen oder anderen Subventionen.
Es wird aber derzeit überlegt, die Regeln für Gemeinnützigkeit zu ändern und in Bezug auf Journalismus anzuwenden. Es gibt doch hervorragende Beispiele wie etwa das gemeinnützige Recherchebüro Correctiv, das auch mit etablierten kommerziellen Medien zusammenarbeitet und denen seine Ergebnisse zur Verfügung stellt. Wäre das nicht ein Modell?
Durchaus. Wir arbeiten auch mit solchen Verbünden zusammen. Aber auch die müssen sich selber tragen. Es geht nicht, dass der Staat oder sonstige Stellen den Journalismus subventionieren. Dann kommen wir in eine Schieflage. Es ist möglich, das zeigt ja eine Reihe von erfolgreichen Medienunternehmen, dass man die Transformation auch ohne Subvention ordentlich hinbekommt.