Harald Hauswald hat einen fotografischen Blick, der sich kaum anlernen lässt. Und er kann warten. Auf den einen Moment, der – aus dem Alltag herausgehoben – im günstigen Fall beim Betrachter später noch einen Film in Bewegung setzt. Wenn, so sagte er, in ein Foto ein bisschen etwas davon reingepackt sei, „was davor und was danach ist“, funktioniere das. Gerade können sich Besucher einer ersten Hauswald-Retrospektive in Berlin davon überzeugen. Auch ein Beitrag zum Einheits-Jubiläum…
Harald Hauswald, 1954 im sächsischen Radebeul geboren, zog es nach einer Fotografenlehre 1978 nach Berlin, Hauptstadt der DDR. Als Telegrammbote oder Angestellter einer kirchlichen Stiftung fand er genügend Freiraum, nebenbei „zu knipsen“. Verbotenes, so sagt er, habe schon seit frühester Jugend einen besonderen Reiz auf ihn ausgeübt, der Westen war ihm imaginärer Sehnsuchtsraum. Deshalb schloss er sich Gleichgesinnten und oppositionellen Gruppen an, war Teil einer Szene, die er nicht nur fotografierte, sondern auch lebte. Schon früh suchte er auch Kontakt zu bundesdeutschen Korrespondenten, verkaufte ihnen Fotos, die dann in „Stern“, in GEO oder taz erschienen, nur anfangs unter Pseudonym. Gemeinsam mit Lutz Rathenow arbeitete er am Band „Ostberlin. Die andere Seite einer Stadt in Texten und Bildern“, der im Januar 1989 bei Piper erschien.
All das blieb DDR-Staatsorganen nicht verborgen. Zeitweise seien etwa 40 inoffizielle Mitarbeiter an der Observation von „Radfahrer“, so nannte ihn die Staatssicherheit, beteiligt gewesen. Schon im Frühjahr 1983 wurden bei einer Durchsuchung von Hauswalds Wohnung Fotos und Materialien beschlagnahmt. 1985 erhielt Hauswald einen Haftbefehl wegen staatsfeindlicher Hetze, Devisenvergehen und der „Weitergabe nicht geheimer Nachrichten“. Sechs Monate wurde dem alleinerziehenden Vater die Tochter entzogen und ins Heim gesteckt. Ganz sicher machte das etwas mit dem Menschen Harald Hauswald. Machte es auch etwas mit seinen Fotos? Muss man sie deshalb anders sehen?
Diese Fragen stehen im Subtext der aktuellen Ausstellung „Voll das Leben!“ im Foto-Ausstellungshaus C/O Berlin. Der „Dialog zwischen zeithistorischem Bezug, Fotografie und Werk“ werde hier erstmals aufbereitet, heißt es im Begleittext. Die Schau ist in Zusammenarbeit mit Ute Mahler und Laura Benz, Hauswalds Kolleginnen von der Agentur Ostkreuz, entstanden. Tatsächlich werden Inhalte und Teile von Stasi-Akten mit der Ausstellung „verwoben“. Praktisch heißt das: Bevor das Publikum zu den Fotografien gelangt, wird es in eine Art biografischen Tunnel geschickt: einen langen, in dämmriges Licht getauchten Raum, die Wände mit BStU-Dokumenten bepflastert, in Vitrinen Stasi-Gutachten zu Hauswalds Fotografien für den Ostberlin-Band.
Harald Hauswald ist zweifelsfrei einer des profiliertesten lebenden Fotografen, der bereits deutsche Fotogeschichte mitgeschrieben hat. Vor dem Mauerfall, in den letzten Jahren der DDR, hat er „Zeugnisse einer abgeschotteten und eingeschlossenen Welt kurz vor ihrem Untergang“ geschaffen. Die Motive sind oft so eindringlich, dass sie als Zeitdokumente wie Ikonen im Gedächtnis haften. Überwiegend in Schwarz-Weiß, oft sachlich-kühl, aber immer mit Sympathie für die Situation und die abgelichteten Menschen. Selbst die skurrilsten Gestalten werden vom Fotografen nicht denunziert. Kontraste, schreiende Widersprüche zwischen Schein und Sein sind auf einen Blick erfasst und im Motiv eingefroren. Sie gestatten Rückblick und Weiterdenken. Hohe Fotokunst!
Aktuell zeigt sie sich den interessierten Betrachtern in 250 zum Teil erstmals veröffentlichten Bildern aus den späten 1970er bis in die 1990er Jahre: Spielende Kinder in Müllecken, Alte auf dem Heimweg oder beim Griff in einen Papierkorb auf der Stadtbahnbrücke, Leuchtreklame vor verfallenden Fassaden, ein tätowierte Kohlenfahrer im Prenzlauer Berg, ein älteres, übergewichtiges Paar auf einer „Schwalbe“, stumpfsinnig dreinblickende FDJ-Ordner vor ausgelassen feiernden Jugendlichen, Publikum bei Rockkonzerten, marode Bausubstanz oder noch unfertige Neubauten in Berlin-Marzahn, der Abriss eines alten Gaswerkes als Fotoserie… Dann der Mauerfall, die schöne neue Warenwelt, aber auch Rostock-Lichtenhagen und Polizeieinsätze gegen Hausbesetzer in der Maizner Straße. – Ein unaufgeregter Blick zurück, nichts beschönigend, doch empathisch. Insofern ein guter Beitrag zum Einheitsjubiläum.
Dass in Scharen strömende Besucher von der biografischen „Einordnung“ nicht unberührt bleiben und sie – gewollt oder ungewollt – auf die Fotos übertragen, lässt sich nicht nur vermuten, sondern beobachten: Zwei Frauen versicherten sich vor dem Foto, das ein Paar im Trabi-Meer auf dem Parkplatz vor dem DDR-Außenministerium zeigt, es habe sich gewisslich um enttäuschte Ausreisewillige im Angesicht der Staatsmacht gehandelt.
Stattdessen sonntägliche Stadtbummler oder einfach aus dem nahen „Palast der Republik“ zu ihrem Auto Zurückkehrende in einem intimen Moment zu vermuten, gelingt allenfalls angejahrt-stoischen Ostberlinern. Dass der Rahmen die Sicht auf das Abgebildete verändern kann, gilt nicht nur für Ölgemälde. Zumindest eine andere Raumaufteilung hätte Offenheit und der Ausstellung gedient.
Übrigens: Bis Ende des Jahres will der Ostkreuz-Verein 7500 belichtete Filme Hauswalds konservatorisch gesichert und 6000 Einzelbilder digitalisiert haben – mit Projektförderung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Und: Die Agentur Ostkreuz, der Harald Hauswald von Beginn angehört und die 2020 ebenfalls ihr 30. Jubiläum feiert, zeigt Arbeiten ihrer sieben Gründer*innen und inzwischen neu Hinzugestoßener ab heute und bis 10. Januar auch in der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin. „Kontinent – auf der Suche nach Europa“, so das Motto der Schau.
Harald Hauswald: „Voll das Leben“, Ausstellung im C/O Berlin, Amerika-Haus, Hardenbergstraße 22 – 24, 10623 Berlin, noch bis 23. Januar 2021, täglich von 11 bis 20 Uhr.