Höchste Zeit, Journalist*innen bei der Arbeit ausreichend zu schützen
Angriffe auf Journalist*innen haben in den letzten Monaten auch in Deutschland zugenommen. Bei vielen Demonstrationen von Corona-Leugnern und „Querdenkern“ im Fahrwasser rechter Extremisten werden Berichterstatter*innen angepöbelt, bespuckt, bedroht, an ihrer Arbeit gehindert. Ihnen schlägt Hass entgegen auf der Straße und im Netz. Die Polizei ist häufig überfordert, schaut absichtlich weg oder hindert die Medienschaffenden selbst an der Arbeit.
So kam es am vorletzten Oktoberwochenende bei den Protesten gegen die Corona-Politik in Berlin zu zahlreichen Behinderungen der Pressearbeit und Angriffen auf Journalist*innen sowohl von Demonstrationsteilnehmenden wie auch von Einsatzkräften der Polizei. Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di Berlin-Brandenburg registrierte Übergriffe auf zwei TV Teams (Axel Springer und NDR Zapp Medienmagazin) und auf mindestens zwei Pressefotografen. Die Journalisten seien bei ihrer Arbeit behindert, bedrängt, umzingelt, und antisemitisch beleidigt worden. Eingesetzte Polizisten hätten am Rande der Proteste drei offensichtlich als Pressefotografen erkennbare Journalisten körperlich angegriffen. Darüber hinaus seien rechte Medienaktivisten der Corona-Proteste durch NS-Vergleiche der Polizei und Hitlergruß im Livestream aufgefallen.
dju-Landesgeschäftsführer Jörg Reichel berichtete: „Die Polizei war teilweise nicht vor Ort und überließ stundenlang dem rechten Mob die Straße, der sich nicht an die Auf-lagen hielt. Pressearbeit war nicht möglich.“ Er bewertet die Übergriffe auf die Journalist*innen als „Ergebnis von mangelndem politischen Willen der Berliner Polizeiführung, Gesetze gegen Corona-Proteste durchzusetzen und die Pressearbeit zu schützen.“ Bereits Anfang November bilanzierte die dju allein in Berlin für das letzte halbe Jahr mehr als 100 Fälle, in denen Journalist*innen bei Corona-Protesten bedrängt, verbal mit dem Tode bedroht, bei ihrer Medienarbeit behindert wurden. Etwa zehnmal seien Pressevertreter in der Hauptstadt geschlagen und getreten worden.
Erschreckend vor allem auch die Bilanz der Anti-Corona-Proteste in Leipzig. Nach Informationen der Gewerkschaft wurden am 7. November mindestens 38 Medienvertreter*innen an der Arbeit gehindert, neun davon durch die Polizei. Im Vergleich zu Berlin sei hier „eine völlig neue Dimension“ beobachtet worden, „was das Ausmaß der Gewalt betrifft“, beklagte die Vorsitzende der dju in ver.di, Tina Groll. Mehrere Journalist*innen seien zum Teil massiv körperlich attackiert worden. Der dju-Vorsitzenden seien mehrere Pressevertreter bekannt, die aufgrund von Sicherheitsbedenken entschieden hätten, nicht vor Ort über die Demonstration in Leipzig zu berichten. Darin sah Groll „eine gefährliche Entwicklung für die Demokratie und ein Alarmsignal für die politisch Verantwortlichen.“ Groll kritisierte zudem das Verhalten der Polizei, deren Strategie in Passivität bestanden habe. Zum Teil hätten die Einsatzkräfte vor Ort Pressearbeit sogar aktiv behindert. Zumindest in einem Fall, nämlich dem einer polizeilichen Maßnahme im Leipziger Hauptbahnhof, bei der die Personalien mehrerer Journalist*innen aufgenommen wurden, werde dies nun aber ein Nachspiel für die Polizei haben, kündigte dju-Bundesgeschäftsführerin Monique Hofmann gegenüber M an: „Wir werden für zwei unserer Mitglieder, die von der unserer Ansicht nach rechtswidrigen Identitätsfeststellung betroffen waren, Klage auf Feststellung dieser Rechtswidrigkeit einreichen.“
Von vermummten Männern ins Visier genommen
„Ganz gezielt“ sei er bei einem Protest radikaler Corona-Leugner Anfang November auf dem Dresdner Theaterplatz von einer Gruppe von mindestens sechs vollvermummten jungen Männern ins Visier genommen worden. Sie seien sehr organisiert aufgetreten, hätten versucht, ihn zu isolieren, erinnert sich Johannes Filous. Die Polizei habe ihm nicht geholfen, beklagt er. „Die waren komplett überfordert, viel zu wenige. Zum Glück ist am Ende nichts passiert“, sagte er dem Tagesspiegel. Leider war es nicht das einzige Mal, dass Filous attackiert wurde. Der Reporter berichtet seit Jahren für den Twitter-Account „Straßengezwitscher“ über rechte Demonstrationen in Sachsen. Auf dem 33. ver.di-Journalismustag zum Thema „Haltung“ im Januar 2020 schilderte er seine Erfahrungen. (https://mmm.verdi.de/beruf/die-zeit-ist-reif-65145)
Einer Umfrage des Tagesspiegels zufolge sind regel-mäßig Journalisten von Radio Dreyeckland von Corona-Rebellen „behindert, beleidigt und angegangen worden, zwei Mal körperlich“, hieß es aus Freiburg. In Minden sei eine symbolisch gelynchte „Corona-Presse“-Puppe an eine Brücke gehängt worden. Reporter aus Aachen, Weiden in der Oberpfalz und Rostock hatten weitere bedrohliche Vorfälle geschildert. Ein Tagesspiegel-Kollege sei von „Querdenken“-Anhängern sogar mit dem Tod bedroht worden.
Besorgt über die drastische Zunahme von Drohungen, Hetze und Gewalt gegen Medienschaffende wandte sich die dju in ver.di an Mitglieder des Innenausschusses im Sächsischen Landtag sowie an die sächsische Staatsministerin der Justiz Katja Meier. Laut einer Studie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) berichteten 60 Prozent der befragten Journalist*innen, in den vorangegangenen 12 Monaten mindestens einmal verbal oder körperlich angegriffen worden zu sein, heißt es in dem Brief. Ein Großteil dieser Angriffe gehe von der politischen Rechten aus. Niemand der von Angriffen Betroffenen fühle sich durch die Behörden sehr gut geschützt.
„Von unseren Kolleginnen und Kollegen hören wir immer wieder, dass sie sich von den Behörden nicht ernst genommen fühlen, dass ihre Anliegen bagatellisiert werden. Die Quoten der Verfahren, die eingestellt werden, sind dementsprechend hoch“, erklärt dju-Bundesgeschäftsführerin Monique Hofmann und fordert von der Politik sicherzustellen, dass Medienschaffende wieder ohne Angst und gefahrlos ihrer Arbeit nachgehen können. Dazu sei vor allem eine intensivere Strafverfolgung erforderlich, etwa durch die Schaffung entsprechender Schwerpunktstaatsanwaltschaften sowie von Meldeportalen nicht nur für Hate-Speech-Delikte, sondern auch für Übergriffe auf Medienschaffende. Mit Blick auf die Polizei sollte unter anderem eine Verpflichtung zu regelmäßigen Schulungen bzw. Weiterbildungen für Einsatzkräfte und Einsatzleiter zu den Themen Presseausweis und Pressefreiheit eingeführt werden. Dafür bietet die dju in ver.di an, solche Seminare durchzuführen oder bei der Konzeption beratend zu unterstützen.
Auch der Deutsche Presserat schaltete sich in die aktuelle Debatte ein und legte der Innenministerkonferenz einen Entwurf über zeitgemäße gemeinsame Verhaltensgrundsätze für Polizei und Medien vor. „Es ist höchste Zeit, dass Journalistinnen und Journalisten bei Demonstrationen und Großveranstaltungen besser geschützt werden und ungehindert arbeiten können“, erklärte der Sprecher des Deutschen Presserats Sascha Borowski. Den Entwurf hatte der Deutsche Presserat mit seinen Trägerverbänden dju in ver.di, DJV, BDZV und VDZ sowie der ARD, dem ZDF, dem Deutschlandradio und dem Verband Privater Medien VAUNET erarbeitet. Erwartet werde, dass die Innen-minister das Papier bei ihrer kommenden Sitzung vom 9. bis 11. Dezember (nach Redaktionsschluss) berücksichtigten und anschließend zu Gesprächen bereit seien.
Bessere Sicherheitskonzepte
Die beteiligten Verbände und Medien fordern von der Polizei verbesserte Sicherheitskonzepte und ein stärkeres Bewusstsein für den verfassungsmäßigen Schutzanspruch und Informationsauftrag der Medien. Dies soll klarer als bisher in der Aus- und Weiterbildung von Polizistinnen und Polizisten verankert werden. Im Gegenzug verpflichten sich Journalistinnen und Journalisten, die Sicherheitskräfte nicht zu behindern und sich bei der Berichterstattung über polizeitaktische Maßnahmen mit der zuständigen Polizeiführung abzusprechen. Dazu soll die Kommunikation zwischen Sicherheitskräften und Medienvertretern insbesondere bei Großeinsätzen verbessert werden. Grundlage für den Entwurf sind die Verhaltensgrundsätze Presse/Rundfunk und Polizei von 1993, die damals vor dem Hintergrund der Geiselnahme von Gladbeck mit der Innenministerkonferenz verhandelt wurden.