Ein Internetanschluss gilt als Grundrecht, den Breitbandzugang sichert die Verfassung des Landes. Offenes WLAN gibt es nicht nur in der Hauptstadt Tallinn. In den kleinsten Dörfern wird digital agiert, selbst in den estnischen Wäldern kann man mit Netz rechnen. Das baltische Land verspricht eine WLAN-Abdeckung von 99 Prozent. Mit 1,4 Millionen Einwohnern ist Estland gerade so groß wie München, vom dortigen Digitalisierungsniveau kann man in Deutschland nur träumen. Doch noch nicht alles läuft rund im Digitalstaat Estland.
„Deutschland schaut mit großem Interesse auf diese bereits bestehende Situation hier“, sagte Angela Merkel 2016 auf ihrem ersten Estland-Besuch. Mit dieser „Situation hier“ meinte die staunende Kanzlerin ein in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens durchdigitalisiertes Land, das sich für seine Bürger vom Internet aus steuern lässt. Man habe „sehr frühzeitig die Chancen der Digitalisierung für sich erkannt“, es ließe sich „mit Fug und Recht sagen, dass Estland eines der innovativsten Länder ist“, so Merkel in Tallinn. Ist das etwa das berühmte „Neuland“, von dem sie zuvor im Zusammenhang mit dem Internet sprach?
Programmieren lernt man in Estland bereits in der Grundschule, das Parlament wird über das Internet gewählt oder per SMS; die digitale Steuererklärung lässt sich in zwei bis drei Minuten erledigen, die Gründung eines Unternehmens in einer Viertelstunde. Alles dank Internet. Nach dem Start 2001 sind inzwischen sind alle öffentlichen Dienstleistungen in Estland digital verfügbar, insgesamt mehr als 3.000.
„Estland zeichnet aus, dass man im Laufe dieser Jahre eine große Menge an Erfahrung und Kompetenzen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor erworben hat, die es unseren Experten ermöglichen, weltweit zu den zuverlässigsten Beratern zu zählen“, erläutert Alar Streimann, der estnische Botschafter in Deutschland, den Digitalisierungserfolg seines Landes gegenüber M. Eine Besonderheit sei die sehr hohe Beteiligung des privaten Sektors – estnische digitale Lösungen wurden größtenteils von estnischen Unternehmen entwickelt. Das habe dazu beigetragen, in Estland ein weltweit einzigartiges IT-Ökosystem von Unternehmen der Weltklasse zu etablieren.
Bald zehn Millionen virtuelle Staatsbürger
Inzwischen kann jeder, auch aus Deutschland, per Mausklick ein Startup in Estlands digitaler Infrastruktur aufbauen. Die sogenannte „e-Residency“ macht es möglich: eine Art digitale estnische Staatsbürgerschaft, die Estland als Vorreiter eingeführt hat und die jeder im Netz beantragen kann. Bis 2025 will die estnische Regierung zehn Millionen e-Residents gewinnen.
Alle Formalien wie Geschäftseröffnung, Banken, Steuern, Gesundheitskarte etc. werden nur noch per Internet geregelt. Formulare werden digital unterschrieben, mehr als 95 Prozent der Esten – das Durchschnittsalter liegt bei knapp 42 Jahren – nutzen bereits elektronische Services. Die Hochschule in Tartu sagt den eigenen Landsleuten einen Platz unter den Top 5 der europäischen Startup-Zentren voraus, neben London, Paris und Berlin.
Die Pionierrolle Estlands hängt direkt mit der Unabhängigkeit des Landes von der damaligen Sowjetunion zusammen. Nach ihrer Neugründung in den 90ern brauchte die Republik schnell neue Personaldokumente. Die Menschen hatten noch ihre sowjetischen Pässe, dazugehörige Daten lagerten in Moskau. Und ein sowjetischer Pass war damals leicht zu fälschen. Es musste schnell gehen, alle Bürger Estlands neu zu erfassen. Effiziente Systeme waren gefragt und die estnische Regierung wagte einen seinerzeit so mutigen wie riskanten Schritt: die papierlose Erhebung aller Daten.
Vorbild Skype
Spätestens seit der Erfolgsgeschichte des Kommunikationstools Skype ist klar, dass der estnische Traum vom großen Durchbruch keine theoretische Vision bleiben sollte. Erfolgreiche Startups in Estland haben eine Verbindung zu Skype, etwa das Startup „Taxify“, eine Alternative zur Taxi-App Uber. Diese und andere Produkte wurden von ehemaligen „Skypern“ in Tallinn aufgebaut.
Im Digitalisierungsranking der EU-Staaten ist Estland mit 61,1 Prozent (Digitalisierungsgrad der EU-Länder nach dem DESI-Index* im Jahr 2020/ Statista) recht weit oben mit dabei. Zum Vergleich: Deutschland abgeschlagen mit 56,1 Prozent, Schlusslicht Bulgarien mit 36,4 Prozent. Dass Estland „lediglich“ in den Top 10 (vor allem hinter den anderen nordischen Staaten wie Finnland, Dänemark und Schweden) und nicht unter den ersten Fünf zu finden ist, hat allerdings Gründe. Ausgerechnet in den Medien ist die Digitalisierung nämlich durchaus noch ausbaufähig.
Zwar hat sich der klassische Printsektor der Verlagswelt weitgehend digitalisiert. Bei den viel genutzten Online-Portalen der Zeitungen ist Estland europaweit vorn. Bereits vor zehn Jahren konnten die Nutzerzahlen des Onlineangebots der großen Tageszeitung „Postimees“ mit denen der verkauften Exemplare mithalten – die Zahl der Internet-Leser der größten Wirtschaftszeitung „Äripäev“ überschritt damals schon die der Druckauflage.
Digitalisierung im Radio zu früh
Wo es bei der Digitalisierung von Estlands Medien aber besonders klemmt, ist der Hörfunk. Und – das dürfte dem Musterschüler im Norden besonders schmerzen – nicht etwa, weil das Land diese Entwicklung verschlafen hätte, sondern vielmehr, weil man in Tallinn zu früh damit war. Als eines der ersten in Europa führte das kleine Estland Ende der 90er Jahre das Digitalradio DAB ein. Doch die globale CE-Industrie brachte noch keine massentauglichen Geräte auf den Markt, schon gar nicht für den keinen estnischen. 2005 zog Estland resigniert dem Digitalradio den Stecker und setzte weiter auf UKW. Folge: Heute ist das im Nordosten gelegene eines von ganz wenigen Ländern in Europa, in denen es kein terrestrisches Digitalradio gibt. Der damalige estnische Botschafter in Berlin, Mart Laanemäe, sprach vom Warten auf einen europäischen Plan. „Wenn es im Radio eine europäische Lösung gibt, dann wird Estland diesen Weg mitgehen.“
Offenbar ist es nun soweit, denn die öffentlich-rechtliche Estnische Rundfunkanstalt „Eesti Rahvusringhääling“ (ERR) hat angekündigt, zunächst in Tallinn mit Ausstrahlungen seiner Programme im DAB-Nachfolgemodus DAB+ starten zu wollen. Inzwischen hat die ERR ihre Nutzer aber bereits an Webstreams und Podcasts gewöhnt. Laut Entwicklungsplan der ERR sollen auch die Fernsehprogramme via 5G vertrieben werden – ein Diskussionsthema, ähnlich wie in Deutschland.
Erste Liga auch beim Fernsehen
Trotz eines sehr überschaubaren Jahresbudgets von 38 Mio. Euro (zum Vergleich: das kleine Radio Bremen erhält pro Jahr 100 Mio.) hat die ERR mit ihren drei Fernseh- und fünf Radioprogrammen erstaunliche technische Transformationen bestanden und weitere angekündigt. Die Fernsehprogramme sind nicht nur auf HD umgestellt, auch hochauflösende 4K-Inhalte werden geprobt.
Der Entwicklungsplan der öffentlich-rechtlichen Anstalt 2018-2021 spricht von einer „Anwendung von Gesichts- und Spracherkennungstools auf Archivmaterial“. So sollen etwa unentdeckte Personen aus dem Archiv schneller zu identifizieren sein. Auch hier ein Vergleich: Mit entsprechenden Sprachtools arbeiten westliche Öffentlich-Rechtliche bereits, mit Personenerkennung im Video tun sich dagegen viele Anstalten noch schwer. Nun will Estland auch hier in der ersten Liga spielen.
Estcoin – Zu viel der Digitalisierung?
Das Land ist stolz auf seine Rolle eines digitalen Fahnenträgers. Man bastelt weiter an Innovationen, manche sind allerdings nicht mehr für alle nachvollziehbar. So hatte Estland parallel zum Euro mit dem „Estcoin“ eine umstrittene nationale Kryptowährung ins Leben gerufen. 2017 von der estnischen Regierung entwickelt, wurde sie ein Jahr später nach massiver Kritik der eigenen Bankbehörden überarbeitet, um ihren Wert nicht mehr an den Euro zu binden. Auch die EU schaltete sich ein, ihr gingen die Pläne zu weit. Inzwischen gilt der Estcoin nicht mehr als offizielle Kryptowährung, soll aber im Rahmen des e-Residency-Programms weiter eingesetzt werden.