Kein blinder Fleck

Foto: Jan-Timo Schaube

Was wäre eigentlich, wenn man nicht mehr über Syrien berichten würde? Wäre dann dort kein Krieg mehr?“ Klar, es war eine rhetorische Frage, die Reporter ohne Grenzen (RSF) vor Jahren im Rahmen einer Kampagne aufwarfen. Derzeit ist das geschundene Land tatsächlich weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden. Dass in Syrien der Frieden ausgebrochen wäre, glaubt kein Mensch. Doch nun wird die öffentliche Aufmerksamkeit fast vollständig vom Drama in Afghanistan absorbiert.

Noch haben die siegreichen Taliban ein Interesse daran, dass westliche Medien über die Lage im Lande berichten, vor allem in Kabul. Allerdings dürfte dieses Interesse mit zunehmender Konsolidierung ihrer Herrschaft zurückgehen. Dagegen wird die Situation einheimischer Journalist*innen immer prekärer. Trotz anfänglicher Versicherungen der Taliban, die Pressefreiheit respektieren zu wollen, häufen sich die Meldungen über Drohungen, Schikanen und Gewalt gegen Journalist*innen in den nationalen Medien. Das gilt speziell für Frauen. Von den 510 Frauen, die zuvor für die acht größten Medienunternehmen des Landes arbeiteten, sind heute nach einer RSF-Zwischenbilanz nur noch 76 tätig.

Wenn niemand mehr reinkommt, sagte „Zeit“-Reporter Wolfgang Bauer kürzlich in einer „ZAPP“-Sondersendung, wird Afghanistan ein blinder Fleck. Ähnlich wie zwei Journalisten von „Spiegel“ und „Bild“ war er kürzlich bei dem Versuch gescheitert, auf dem Luftwege einzureisen. Angekommen in Kabul, wurden sie von US-Einsatzkräften umgehend zurückgeschickt – nach Katar. Die Betroffenen betrachten diese Zurückweisung als Verletzung der Pressefreiheit. Dass in Kriegs- und Bürgerkriegszeiten die Grund- und Menschenrechte häufig nicht allzu viel gelten, ist nicht neu.

Im Irakkrieg durften Auslandsreporter den Vorstoß der US-Armee nur „embedded“ begleiten, also unter Kontrolle einer Kriegspartei, und zwar des Aggressors, der auf Grundlage manipulierter Bilder von angeblich vorhandenen Massenvernichtungswaffen im Irak diesen Angriff provoziert hatte. Der finale Siegeszug der Taliban geschah dagegen fast vollständig unter Ausschluss internationaler Medien. Ebenso wie die meisten ausländischen Geheimdienste und ihre Regierungen wurden sie von der Einnahme Kabuls am 18. August völlig überrascht.

Was auch damit zusammenhängt, dass die meisten Medien ihre Korrespondent*innen schon vorher zurückgezogen hatten, in der Regel aus Sorge um deren Sicherheit. Das gilt auch für die Berichterstatter*innen von ARD und ZDF. Der Spott mancher Betrachter, aus einem Hotelzimmer in Doha oder Neu Delhi lasse sich eben bequemer und risikofreier berichten als aus Kabul oder gar aus einigen Provinzregionen, mutet allerdings reichlich zynisch an. So unbefriedigend es sein mag, im TV Aufsager aus Katar oder Indien vorgesetzt zu bekommen, so wohlfeil ist die Erwartung und Forderung, direkt von der „Front“ informiert zu werden– koste es, was es wolle. Und sei es das Leben. Selbst CNN-Reporterin Clarissa Ward, die in der Vergangenheit ISIS-Kommandanten interviewte und bis zuletzt in Burka über die Perspektive von Frauen unter den neuen Machthabern nachforschte, hat Afghanistan längst verlassen.

Spätestens nach den Bombenanschlägen am belagerten Flughafen von Kabul mit vielen Toten und Verletzten war klar, dass vor Ort akute Lebensgefahr herrscht. Wie die Medienhäuser mit dieser Situation umgehen sollen? Einige greifen auf die Dienste des freien Journalisten Franz Marty zurück. Der seit 2014 in Afghanistan ansässige Schweizer ist als einer der wenigen Auslandsreporter im Lande geblieben. Das ist mutig und verschafft ihm in der aktuellen Situation im deutschsprachigen Raum fast exklusive Möglichkeiten als Reporter, eignet sich aber nicht als allgemeines Modell für die Auslandsberichterstattung. Letzteres gilt erst recht für die Praxis von „Bild“-Reporter Paul Ronzheimer, der sich in sattsam bekannter Boulevardmanier sensationslüstern auf einen Roadtrip durch die „Taliban-Hölle“ begeben hat.

Aktuell sollte die möglichst zügige Evakuierung der gefährdeten afghanischen Journalist*innen vor Ort im Vordergrund stehen. Nur einer kleinen Minderheit der lokalen Stringer und Mitarbeiter*innen ist während der chaotischen Tage der Taliban-Machtübernahme in einer Maschine der US-Army oder der Bundeswehr die Flucht gelungen. Ohne die Hilfe dieser Kolleg*innen wäre es in den vergangenen 20 Jahren kaum möglich gewesen, ein halbwegs realistisches Bild von den Zuständen im Lande zu zeichnen.

Anfang September umfasste die Liste der deutschen Sektion von Reporter ohne Grenzen rund 90 Namen von besonders gefährdeten afghanischen Journalist*innen, darunter 29 Frauen, Familienmitglieder nicht eingerechnet. Selbst diejenigen, die rechtzeitig ohne fremde Hilfe in Nachbarländer geflüchtet sind, stecken in einer verzweifelten Situation. RSF hat die Bundesregierung aufgefordert, eine Visa-Grundsatzentscheidung für in Drittstaaten gestrandete bedrohte Medienschaffende zu treffen, anstatt weiterhin nach Einzelfällen zu entscheiden.

Am Umgang mit diesen Menschen wird sich erweisen, wie ernst die Bundesregierung und ihre Verbündeten die so gern beschworenen „westlichen Werte“ nehmen und was die gegebenen Sicherheitsgarantien wert sind.

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