Kompetent über Migration berichten

M berichtete 2018 über die Radio-Ausbildung der Deutschen Welle von Rohingya in Myanmar, die nach Bangladesh geflüchtet waren. Das Foto zeigt eine Rohingya-Reporterin, die einen Campbewohner interviewt. Foto: DW/Andreas Lange

In öffentlichen Debatten über Migration mangelt es Journalist*innen oft an Fachwissen, kompetent über Zuwanderung, Flucht und ihre Ursachen weltweit zu berichten. Abhilfe bietet nun das UNESCO-Handbuch „Reporting on Migrants and Refugees“, das im Dortmunder Erich-Brost-Institut für internationalen Journalismus EBI erarbeitet wurde, wo es seit sechs Jahren einen Forschungsschwerpunkt zu Migrationsberichterstattung gibt.

„Obwohl das Thema Migration weltweit immer wieder die Schlagzeilen dominiert, für erhitzte Diskussionen sorgt und Wahlausgänge bestimmt, gab es bislang kein umfassendes Grundlagenwerk für Journalistinnen und Journalisten. Gerade ihnen kommt jedoch eine Schlüsselrolle für die öffentliche Debatte zu“, erläuterte Journalismusprofessorin und EBI-Leiterin Susanne Fengler bei der Vorstellung des Handbuches, das sie zusammen mit Monika Lengauer und Anna-Carina Zappe herausgegeben hat.

Im Gespräch mit M skizzierte Fengler im Frühjahr vergangenen Jahres, wie die Idee für das 300 Seiten starke Werk entstand. Kurz vor der „Flüchtlingskrise“ in Deutschland habe sie mit Veye Tatah von der EBI-Partner-NGO Africa Positive darüber gesprochen, den Fokus im Forschungsschwerpunkt „Journalism in a Global Context“ stärker auf Migration von Afrika zu legen. Als das Thema aktuell wurde, habe man 2015/16 eine Studie zur Flucht- und Migrationsberichterstattung in afrikanischen und europäischen Ländern durchgeführt und zahlreiche Unterschiede in Herkunfts- und Zielländern festgestellt. So kam heraus, dass Medien in afrikanischen Ländern sehr viel weniger über Migration informierten. Die Berichterstattung war Elite zentrierter, Flüchtlinge und Migrant*innen kamen kaum zu Wort, noch weniger als in europäischen Ländern. Fluchtursachen spielten sowohl in Europa als auch in Afrika keine Rolle. Wenn über Flucht berichtet wurde, dominierten sensationelle Darstellungen – etwa von Schleppern oder Bootsflüchtlingen im Mittelmeer.

Vielfältiger, komplexer und fundierter Diskurs

„Es gab so viele Defizite in der europäischen und afrikanischen Berichterstattung! Deshalb wollten wir in Anbetracht der schwierigen Rahmenbedingungen unseren Teil dazu beitragen, den Diskurs vielfältiger, komplexer und fundierter zu machen“, so Fengler. Das Dortmunder Forschungsteam akquirierte Drittmittel von Auswärtigem Amt und Robert-Bosch-Stiftung und erprobte das Curriculum in Summerschools oder Uniseminaren – zusammen mit dem Afrikanischen Mediennetzwerk AMI. Das Feedback der Teilnehmer*innen wurde in die Kurse eingebaut und so „im Ping-Pong-Verfahren“ das Curriculum entwickelt.

Im Juli 2021 erschien das UNESCO-Handbuch dann im Internet – zum kostenfreien Download auf Englisch. Zu den Texten der drei Herausgeberinnen haben 34 internationale Gastautor*innen Beiträge geliefert, weiterführendes Material finden Interessierte auf der Projektwebsite. Das Handbuch gliedert sich in 13 Kapitel bzw. Lernmodule, die Faktenwissen zu Flucht und Migration vermitteln, aber auch berufspraktische und ethische Fragen thematisieren – von der Recherche bis zur Berichterstattung und ihrer Wirkung, von persönlicher Verantwortung bis zu internationaler Kooperation.

Menschliche Geschichte hinter den Zahlen

Zunächst gibt es Zahlen und Fakten zu weltweiten Wanderungsbewegungen, Begriffsdefinitionen – etwa Unterschied zwischen “Migrant“ und „Flüchtling“ – und Informationen über Push- und Pullfaktoren der Migration – etwa Krieg und Armut, die Menschen aus ihrem Heimatland vertreiben und Anreize, die ein Zielland bietet, wie Arbeit und Sicherheit. Dann wird die Berichterstattung weltweit darüber unter die Lupe genommen – wie sie aufs Publikum wirkt und welche Herausforderungen sie für Journalist*innen birgt, etwa bei Blickwinkel und blinden Flecken oder Stereotypen in der Berichterstattung. Einem Forschungsüberblick folgt die Vorstellung einer  eigenen Studie zur Migrationsberichterstattung in Afrika und Europa und einer zweiten Analyse von Medien in Ost-und Westeuropa, USA und Russland. Mit drei Fallbeispielen – Guinea-Bissau, Kamerun und Deutschland – sollen Journalist*innen für die „menschliche Geschichte hinter den Zahlen“ sensibilisiert werden.

Im letzten Drittel des Handbuches geht es praxisnah um professionelle Migrationsberichterstattung. Nachrichtenwerte wie Negativismus und Konflikt sollten kritisch hinterfragt und das Thema Migration in einen größeren konstruktiveren Kontext wie etwa Entwicklung eingeordnet werden. Statt Stimmen aus der Politik müssten die von Betroffenen – Geflüchteten, Migrant*innen – mehr Gehör finden. Journalist*innen sollten Informationen sorgfältig überprüfen und Worte sensibel wählen – statt von einer „Flüchtlingskrise“ lieber von einer „Krise der Migrationspolitik“ schreiben.

Journalistische Professionalität ist eng verbunden mit ethischen Richtlinien wie den fünf Punkten für Migrationsberichterstattung des Netzwerks für ethischen Journalismus. So gilt es auch bei der Recherche vor Ort und Interviews mit Betroffenen Trauma-sensibel vorzugehen, um etwa  traumatisierte Geflüchtete und sich selbst zu schützen. Das wird zum Beispiel an dem TIIM-Modell (Trauma Informed Interviews with Migrants) demonstriert.

Kollaborative Migrationsberichterstattung

Wie die Perspektive erweitert werden kann, wenn Journalist*innen aus Herkunfts-, Transit- und Zielländern zusammenarbeiten, thematisiert ein Kapitel über „Kollaborative Migrationsberichterstattung“. Die Vorteile des Kollaborativen Journalismus erklärt Tabea Grzeszyk vom Hostwriter-Netzwerk in einem Interview. Lokale Journalist*innen in den Herkunftsländern könnten die verengten Migrationsnarrative in westlichen Medien erweitern, denn „Europa ist nicht nur Zielland von Geflüchteten, sondern es hat auch zu den Problemen beigetragen, die Ursache ihrer Migration sind.“ Weitere Beispiele sind die Einbeziehung von Geflüchteten und exilierten Journalist*innen in die Berichterstattung wie beim „Refugee Journalism Project“ in London oder grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die von interkultureller Kompetenz getragen wird.

Abschließend geht es um journalistische Marketingstrategien – hergeleitet aus Mediennutzung und inhaltlichen Interessen des Publikums, ausgerichtet auf die Redaktionslinie. Durch bewegende Bilder – „Aylan Kurdi“ gab der Migration ein Gesicht – oder konstruktive Geschichten „über Mut, Würde, Liebe unter härtesten Bedingungen“ gelinge es etwa, Beiträge zu „verkaufen“.

Auf die M-Nachfrage, wann das Handbuch für Journalist*innen hierzulande auch auf Deutsch verfügbar ist, antwortete Mitherausgeberin Monika Lengauer: „Eine deutsche Übersetzung ist nicht geplant. Wir erarbeiten zurzeit einige Kurse für eine E-Learning Plattform zum Thema Migration und Integration – komplementär zu den Ausführungen des Handbuchs.“ Diese E-Learning-Plattform „Medien –Migration –Integration“ für angehende und bereits gestandene Journalist*innen soll Ende dieses Jahres online gehen. Sie ist Teil des Nationalen Aktionsplans Integration der Bundesregierung und wird zusammen mit dem Mediendienst Integration aufgebaut.


Mehr zum M-Artikel von 2018 (unser Foto): 

DW-Radiotraining für geflüchtete Rohingya – M – Menschen Machen Medien (ver.di) (verdi.de)

 

 

 

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