Immer noch zu wenig Sprachsensibilität

Studienautor Marcus Kreutler mit Moderatorin Carmen Colinas und Matthias Drobinski, Süddeutsche Zeitung (v.l.n.r.)
Foto: Bertold Runge

Aktuell wird wieder heftig diskutiert über den Umgang mit Geflüchteten an Europas Grenzen. Er hoffe da auf mehr „Sensibilität für Begrifflichkeiten“ in den Medien, so Marcus Kreutler, ein Autor der Studie „Stumme Migranten, laute Politik, gespaltene Medien“. Die vergleichende Untersuchung  analysiert, wie in 17 Ländern über Flucht und Migration berichtet wurde. Ihre Ergebnisse nahm eine Diskussionsrunde im Frankfurter Main-Forum jüngst unter die Lupe.

Eingeladen hatten der Interkulturelle Mediendialog und die Otto-Brenner-Stiftung, die das European Journalism Observatory EJO bei dem Forschungsprojekt finanziell unterstützte. Wissenschaftler*innen aus 16 europäischen Ländern – inklusive Russland – und den USA analysierten etwa 2400 Artikel, die zwischen August 2015 und März 2018 in jeweils zwei Leitmedien ihres Landes erschienen. Fazit: Es gibt in der Migrationsberichterstattung viele Unterschiede nach Region und politischer Tendenz der untersuchten Print- und Online-Medien.

Marcus Kreutler vom Dortmunder Erich-Brost-Institut, das FAZ und Süddeutsche Zeitung analysierte, erläuterte zunächst die Unterschiede beim Umfang der Berichterstattung. In den deutschen und ungarischen Medien erscheinen fast zehnmal so viele Artikel über Flucht und Migration wie in den anderen Ländern. In Ungarn hänge das mit der Regierung Orbán zusammen, die im Streit um die Aufnahme von Geflüchteten als Gegenspieler von Angela Merkel auftrat. Für Deutschland – ebenso wie für Italien und Griechenland – seien Migration und Flucht auch wichtige Inlandsthemen, in den anderen EU-Staaten fielen sie unter Auslandsberichterstattung. Das könne erklären, warum Deutschland mit seiner Forderung nach einer „europäischen Lösung“ der Asylfragen ziemlich allein dasteht. Bei den Akzenten der Berichterstattung thematisieren Medien in Osteuropa häufiger Probleme mit Migrant*innen und Geflüchteten als in Westeuropa, wo insgesamt positiver berichtet wird – allen voran Deutschland. So widme die SZ beinahe jeden fünften Artikel der Frage nach Hilfeleistungen für Zugewanderte.

„Stumme Migranten“ und Meinungsvielfalt

Gemeinsam ist der auf Politik fokussierten Berichterstattung europäischer Medien, dass Hintergründe von Flucht und Migration – unterschiedliche Herkunftsregionen und Motive der Menschen – weitgehend ausgespart bleiben. Die betroffenen Zugewanderten machen nur etwa ein Viertel der Hauptakteur*innen aus, wobei sie zumeist als „anonyme große Gruppen“ erscheinen. Selten werde unterschieden zwischen „Flüchtlingen“ nach der UNHCR-Konvention und „Migranten“. 90 Prozent der Zitate stammen von „Nicht-Migranten“. Die beiden US-Zeitungen „New York Times“ und „Washington Post“ seien „interessanterweise anders gestrickt“, so Kreutler, denn sie zeigten viel mehr Migrant*innen und Geflüchtete und ließen sie zu Wort kommen. Als Hauptakteur*innen der Migrationsberichterstattung identifizierte das Forschungsteam Politiker*innen, überwiegend Regierungsmitglieder und begründete das mit dem Politikfokus und der Verortung im Auslandsressort.

Bei wertenden Äußerungen zu Flucht und Migration stellten sich nicht nur Unterschiede zwischen West– und Osteuropa heraus. Auch innerhalb der Länder hätten die „Menschen die Chance, mit unterschiedlichen Meinungen konfrontiert zu werden“, so Kreutler. In der anschließenden Diskussion fragte Moderatorin Carmen Colinas ihn, warum sich dann laut Eurobarometer 2017 gut die Hälfte der Befragten so schlecht über das Thema Migration informiert fühlte. “Wenn die Hintergrundberichterstattung zu kurz kommt, bemerken das die Leser und Leserinnen natürlich“, antwortete Kreutler.

Die „stummen Migranten“ in deutschen Medien begründete SZ-Redakteur Matthias Drobinski damit, dass es 2015 in Deutschland „eine legitime politische Debatte“ gab, „die Flüchtlinge außen vor ließ“. Anders als amerikanische Zeitungen verstünden sich deutsche zudem als „publizistisch-kommentierend“, während es in den USA eine größere Rolle spiele, „einen Einzelfall zu finden.“

Carmen Colina thematisierte die wandelnde Berichterstattung in der Bundesrepublik von der Willkommenseuphorie, die dann kippte und mit der Kölner Silvesternacht 2015/16 in zweifelhafter Weise Probleme fokussierte. Als sie das mit dem damaligen SZ-Aufmacher belegte, der eine schwarze Hand auf weißem Frauenkörper zeigte, bemerkte Drobinski, diese Darstellung sei in der Redaktion als „hochproblematisch“ angesehen worden, aber „wir sind nicht dazu da, etwas schön zu schreiben, was nicht schön ist. Migration ist immer ambivalent.“

Mehr Sensibilität für Begrifflichkeiten und Perspektiven

Auf die Publikumsfrage, was die Studienergebnisse aktuell für die Information über Flucht und Migration bedeuten, antwortete Kreutler: „Wir haben noch nicht die Berichterstattung, die das Thema verdient.“ Etwa zu Fluchtursachen: Es werde über Kriege berichtet, aber kein Zusammenhang hergestellt zu den Menschen, die deshalb nach Europa fliehen… und zu den Waffenverkäufen deutscher Firmen, wie später eine Frau aus dem Publikum nachschob. Mit Verweis darauf, dass immer weniger zwischen „Flüchtlingen“ und „Migranten“ unterschieden wird, äußerte Kreutler die Hoffnung auf mehr Sensibilität für Begrifflichkeiten. Journalist*innen sollten sich z.B. fragen: „Was heißt das politisch, wenn Ungarns Präsident Orbán von Migranten spricht, obwohl es sich um Statusflüchtlinge handelt?“

Die Journalistin Canan Topçu, die viele „beratungsresistente weiße deutsche Kollegen“ erlebte, hakte nach, ob sich in den Redaktionen beim Wording etwas verändere. Die SZ habe die Neuen deutschen Medienmacher*innen zur Blattkritik eingeladen, berichtete Drobinski. Der Terminus „Geflüchtete“ statt „Flüchtling“ aus dem NdM- Glossar sei wenig überzeugend. Auch werde man nicht immer von einer „rassistisch motivierten Tat“ schreiben, zumal „nicht alle Ausländer- und Fremdenfeinde rassistisch“ seien, die Sprachregelungen sich abnutzen und selbst zum Stereotyp werden können. Drobinski setzte auf mehr Diversität in der Redaktion. „Wir als alte weiße Männer“, so fuhr er fort, „müssen uns immer wieder bewusst machen, dass wir in einer strukturkonservativen Zeitung arbeiten und eine andere Perspektive haben“ als etwa seine Kollegin Dunja Ramadan, die sich vom Anschlag in Hanau anders betroffen fühle. Den „Blick über den Tellerrand“ will Kreutler durch Einblicke in die Redaktionsarbeit und den Austausch mit Kolleg*innen in anderen Ländern umsetzen.

 

Der Interkulturelle Mediendialog

ist ein bundesweit einmaliges Projekt, das Vertreter *innen deutscher und anderer Medien alle drei Monate zusammenbringt, um für unterschiedliche Perspektiven auf gesellschaftlich relevante Themen, wie hier Flucht und Migration, zu sensibilisieren. Das Projekt um Koordinator Erhard Brunn existiert seit 2007. Seit 2015 beteiligen sich am „Runden Tisch Interkultureller Mediendialog Rhein-Main“ zunehmend auch geflüchtete arabische Medienmacher*innen. Träger sind die beiden Kirchen (Bistum Limburg und EKHN) sowie die Neuen Deutschen Medienmacher*innen. Zu den Kooperationspartner*innen gehören inzwischen auch die dju/ver.di Hessen, der Frankfurter Presseclub, das Amt für Multikulturelle Angelegenheiten oder OBS.

 

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