Radikale Veränderung klassischer Formate für Social Media
Lineares Fernsehen verliert mehr und mehr Zuschauer*innen. Während zeitversetzter Medienkonsum in Sozialen Medien und Streaming boomen. Gerade jüngere Menschen sehen weniger fern und neigen dazu, sich ihre Inhalte selbst zusammenzustellen. Dem tragen die Sender Rechnung und bieten ihre Inhalte auch auf digitalen Plattformen an. Für die klassischen Formate bedeutet das zum Teil eine radikale Veränderung.
Wer abends pünktlich um acht Uhr den Fernseher einschaltet, um die „Tagesschau“ zu sehen, gehört wahrscheinlich zur Generation 50plus. Laut den Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Videoforschung und des Marktforschungsinstituts Gesellschaft für Konsumforschung ist die Fernsehdauer in Deutschland stark vom Alter der Zuschauer*innen abhängig. Je älter sie sind, umso länger und regelmäßiger sehen sie durchschnittlich fern. Nicht nur der klassische Fernsehkonsum nimmt bei jüngeren Menschen ab, auch nutzen sie Medien weniger zeitgebunden. Dafür spielen zeitflexible Medien auf Plattformen wie YouTube, Instagram oder TikTok eine immer größere Rolle. Die Jahrgänge ab 1996 verbringen im Schnitt über 2 Stunden pro Tag (126 Minuten) auf Plattformen wie Facebook, Instagram und Twitter und damit mehr Zeit als vor dem Fernseher (102 Minuten). Millenials (geb. 1981 – 1995) sind rund anderthalb Stunden am Tag in Sozialen Medien unterwegs, die Generation X (geb. 1966 – 1980) etwa eine Stunde täglich. Diese Kanäle werden nicht nur für die Kommunikation mit Freund*innen genutzt, sondern auch zur Unterhaltung, für Recherchen oder zum Konsum von Nachrichten. Die Erkenntnis dieser Trends führt dazu, dass Fernsehsender neben ihrem linearen Programm auch immer mehr Angebote für diese Gruppe machen. Sie unterscheiden sich in Länge und Ansprache von bisherigen Fernsehformaten und sind auf den gängigen Plattformen zu jeder Zeit abrufbar.
Ein neues Format, dass auf Wissensvermittlung und politische Bildung setzt, ist der Instagram-Kanal „IchbinSophieScholl“ von SWR und BR. In täglichen Stories und Videoposts stellt dort eine Schauspielerin die letzten Wochen in Sophie Scholls Leben nach. Als Vorlage wurden Tagebücher, Notizen und Briefe der Widerstandskämpferin verwendet. Die fiktive Sophie veröffentlicht täglich Fotos, Zeichnungen oder Videos und teilt Storys. „Raus aus den Geschichtsbüchern ins Hier und Jetzt“ beschreiben das die Verantwortlichen. Mit Erfolg: Knapp 900.000 Menschen folgen dem Kanal inzwischen. Mit „Eva Stories“ wurde bereits 2019 das Tagebuch von Eva Heymann als Instagram-Format umgesetzt. Die 13-Jährige Jüdin war 1944 in Auschwitz ermordet worden. Der Kanal aus Israel hat über 1,2 Millionen Follower. In insgesamt 70 kurzen Bildergeschichten wird das Schicksal von Eva Heyman vom Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn bis zur Deportation nach Auschwitz erzählt. Das Mädchen wird von einer Schauspielerin dargestellt, die das Geschehen selbst filmt. „Die Eva-Stories“ wurden komplett mit dem Smartphone aufgenommen.
Interaktion mit Sophie Scholl
Solche Historien-Formate sind durch eine dem Medium immanente Nähe zu der gezeigten Person geprägt. Außerdem können die Menschen mit ihr interagieren – mit Abstimmungen oder Kommentaren. Oft antwortet beispielsweise die fiktive Sophie Scholl direkt in den Insta-Kommentaren. Das Projekt verspricht, dass man so am Leben von Scholl „hautnah, emotional und in nachempfundener Echtzeit“ teilhaben könne. Der Balanceakt zwischen Geschichtsvermittlung und Personalisierung hat allerdings auch seine Tücken. Denn gerade eine komplexe und umfangreiche Einordnung historischer und politischer Ereignisse ist in einem auf Kürze angelegten Format oft schwierig.
Um genau solche Formate zu entwickeln und zu produzieren haben ARD und ZDF, unter Federführung des SWR, 2016 ein eigenes Online-Content-Netzwerk gegründet. Die produzierten Inhalte richten sich insbesondere an Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 29 Jahren. ARD und ZDF sind gemeinsam Träger und gleichberechtigte rundfunkrechtliche Veranstalter des Angebots. Funk produziert über 70 verschiedene, regelmäßig publizierende Formate für Social-Media-Plattformen. Diese werden auf jeweils eigenen Kanälen und Accounts ausgespielt. Zu den Plattformen gehören YouTube, Facebook, Twitter, Instagram, TikTok, Spotify und Snapchat. Die Sendungen fokussieren auf Information, Orientierung oder Unterhaltung. Es gibt Nachrichten, Erklär-Videos, Reportagen, Comedy-Videos und Fiction-Produktionen. Allen Formaten gemein ist der starke Bezug auf interaktive Elemente. Während Nutzer*innen unter Beiträgen kommentieren, liken und Nachfragen stellen können, bieten Anwendungen wie die Insta-„Stories“ weitere Interaktionsmöglichkeiten: von der Umfrage bis zum Quiz. Außerdem werden Hashtags und Verlinkungen anderer Accounts genutzt.
„Unsere Aufgabe und unser Auftrag ist es unter anderem, besten Journalismus und verlässliche Informationen zu bieten – auch auf den digitalen Ausspielwegen. Wir müssen dort sein, wo die Gesellschaft ist“, schreibt der SWR-Intendant Kai Gniffke in einem Gastbeitrag bei dem Mediendienst turi2. „Die sozialen Medien sind sogar eine Art Glücksfall für uns. Denn: Wir hatten nie eine bessere Chance, so viele Menschen individuell zu erreichen und mit ihnen direkt in Kontakt zu treten. Und wir waren als öffentlich-rechtlicher Rundfunk nie wichtiger als jetzt. Fake News, Hass-Posts, undurchsichtige Quellenlagen, Propaganda: All dem müssen und können wir mit unserem Handwerk, mit unseren journalistischen Skills und mit unserer publizistischen Kraft gegenübertreten.“
Seine Zielgruppe erreicht Gniffke mit „funk“ durchaus. 70 Prozent der 14- bis 29-Jährigen in Deutschland haben das Angebot einer Studie zufolge bereits genutzt. Sie abonnieren den YouTube-Kanal „maiLab“, durch den sie lernen, wie sie Corona-Statistiken interpretieren können. Sie hören, wie Eva Schulz in ihrem Podcast „Deutschland3000“ mit Prominenten über Politik spricht. Auf Instagram ist der feministische Kanal „Mädelsabende“, der jede Woche ein anderes Thema behandelt, besonders beliebt. Der YouTube-Kanal „Y-Kollektiv“ dreht aufwändige, bis zu 45 Minuten lange Reportagen. Die Aufrufe landen kaum unter der Marke von 500.000. Und das, obwohl Themen wie Depression oder Polizeigewalt an den EU-Außengrenzen komplex und anspruchsvoll sind. Der Erfolg der neuen Formate misst sich aber nicht nur in Reichweite: Die Chemikerin und Journalistin Mai Thi Nguyen-Kim wurde seit Ausbruch der Pandemie vielen YouTube-Nutzer*innen durch ihren Wissenschafts-Kanal „maiLab“ bekannt. Heute ist sie regelmäßiger Gast in Talk-Shows. Sie wurde mit der Leibniz-Medaille geehrt, bekam den Grimme-, den Nannen- und den Deutschen Fernsehpreis und landete mit ihrem Sachbuch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ auf Platz 1 der „Spiegel“-Bestsellerliste.
Für viele Medienhäuser wird nun auch noch TikTok zu einer wichtigen Plattform, um eine sehr junge Zielgruppe unter 25 zu erreichen. Der WDR-Nachrichtenkanal „nicetoknow“ auf TikTok bereitet seit einem halben Jahr Nachrichten für junge Menschen zwischen 14 und 16 Jahren auf. Seit Februar 2021 erscheint auf „nicetoknow“ jeden Tag ein 60-sekündiges Video. Fünf junge Hosts wechseln sich mit der Präsentation ab. Anne, Aylin, Ilias, Ole und Tim schreiben ihre Texte selbst. Das merkt man und es ist so gewollt. Denn Authentizität und Nähe sind auf Social Media wichtig.
TikTok-Videos zur Bundestagswahl
Wie eng die Zusammenarbeit zwischen den Sendern und den Plattformen bereits ist, zeigt ein aktuelles Projekt zur Bundestagswahl. Die jungen Wellen, „funk“ und die „Tagesschau“ produzieren rund um die Bundestagswahl Videos für TikTok. Diese werden dann gesammelt auf einer Unterseite präsentiert. Wer auf der Plattform nach Informationen rund um das Thema sucht, wird zu diesen Inhalten geleitet. Die Idee dazu kam übrigens von dem chinesischen Videoportal selbst. Eine nicht ganz unproblematische Zusammenarbeit. Seit sich die Plattform in Europa verbreitet hat, gibt es immer wieder Vorwürfe der Zensur. In der Vergangenheit tauchten in einigen Ländern bestimmte Hashtags, beispielsweise aus der LGBTQ-Bewegung, nicht mehr in der Suche auf. Auch Dirk von Gehlen gibt in seinem Blog zu bedenken, dass von solchen Kooperationen – egal ob TikTok oder Instagram – auch Unternehmen profitierten, für die neutrale Berichterstattung nicht das Ziel sei, sondern denen es darum gehe, Nutzer*innen möglichst lange auf der Plattform zu halten und damit zu monetarisieren.