Begegnung mit dem Datenschatten

Foto: Konrad Waldmann

Die Berliner Künstler*innen-Gruppe Laokoon hat mit #madetomeasure ein investigativ-künstlerisches Datenexperiment realisiert. Sie hat Szenen aus dem Leben einer realen Person rekonstruiert, indem sie deren Google-Suchen ausgewertet hat. Das Projektergebnis ist als Film und Website zu besichtigen. Bilanzierend erkennen die Macher, „welches mächtige Werkzeug“ es auch für Manipulatoren sein kann, mit IT massenhaft psychologische Profile zu erstellen.

Jahrelang lautete Google`s Unternehmensmotto „Don´t be evil”. Der Satz diente sogar als Kennwort für das WLAN im Google-Shuttle, dem konzerneigenen Fahrdienst. Seit 2018 verwendet Google dieses Motto nicht mehr in der Öffentlichkeit. Der Künstler und Filmemacher Hans Block hatte vermutlich bereits damals Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Aussage. In dem Jahr, in dem Google sein Motto unsichtbar stellte, machte Block, zusammen mit Moritz Riesewick, in „The Cleaners“ die fragwürdigen Praktiken großer IT-Konzerne sichtbar.

Block und Riesewick begleiteten sogenannte Content-Moderator*innen – Menschen, zumeist in ärmeren Weltregionen, die im Auftrag von Facebook, YouTube, Twitter & Co rund um die Uhr die Plattformen durchstreifen und unerwünschte Inhalte löschen. Die Kriterien dieser Aufräumarbeit bleiben dabei oft im Dunkeln. Ins Licht dagegen treten in dem Film die seelischen Verwüstungen, die der Job bei den „Reinigungskräften” hinterlässt.

„Made to Measure“ erzeugt emotionale (unangenehme) Nähe

Jetzt haben Block, Riesewick und Cosima Terrasse, mit der zusammen sie die Künstler*innen-Gruppe Laokoon bilden, sich die Frage gestellt: „Ist es möglich, allein anhand von Online-Daten das Leben eines Menschen zu rekonstruieren, ohne diesem Menschen je begegnet zu sein?” Sie wurde zum Ausgangspunkt ihres gemeinsamen Cross-media-Projects „Made to Measure“. Über unsere Rolle als Nutzer*innen und Lieferant*innen der Plattformökonomie erfahren wir täglich Neues in zahlreichen Print-, TV- und Online-Reportagen. „Made to Measure“ aber bringt uns das Thema emotional (unangenehm) nahe, wo wir es sonst nur rational registrieren.

Laokoon: Hans Block, Cosima Terrasse und Moritz Riesewick (v.l.n.r.)
Foto: Konrad Waldmann

Von außen betrachtet präsentiert sich das Projekt als eine Website und ein Dokumentarfilm, initiiert und entwickelt von Laokoon, in Zusammenarbeit mit der Kulturstiftung des Bundes und mit Koproduzenten, wie dem WDR, SRG SSR, dem RBB und dem PACT Zollverein in Essen. Machbar wurde das Ganze, weil die Datenschutz-Grundverordnung EU-Bürger*innen seit Mai 2018 ermöglicht, ihre von Google, Facebook & Co gespeicherten Daten einzusehen und herunterzuladen. Bei Google z.B. geht das recht einfach über die Seite Google Takeout.

Laokoon suchte europaweit nach Menschen, die dazu bereit waren, ihnen bzw. ihrer Produktionsfirma diese persönlichen Daten für ein künstlerisches Projekt zur Verfügung zu stellen. Etwa 100 Personen folgten dem Aufruf. „Dass tatsächlich Menschen bereit waren, bei unserem Experiment mitzumachen, hat uns überrascht”, erinnert sich Hans Block.

Rekonstruktion der persönlichen Geschichte aufgrund von Daten

Im nächsten Schritt fragte die Produktionsfirma dann bei den Einsender*innen um die Erlaubnis nach, auf der Basis ihrer eingeschickten Datensätze ihre persönliche Geschichte rekonstruieren zu dürfen. Die Zusammenarbeit sollte ohne vertragliche Bindung stattfinden, um den Teilnehmer*innen jederzeit die Möglichkeit eines Ausstiegs einzuräumen. „Das war uns sehr wichtig, aber natürlich auch ein großes Risiko für das Projekt”, betont Bock. Schließlich standen noch 30 Datensätze zur Verfügung. Alle anderen Einsender*innen hatten sich entweder nicht zurückgemeldet, oder ihre Teilnahme aktiv zurückgezogen.

Vor der Übergabe an die Künstler*innen wurden die Daten anonymisiert. Klarnamen, Adressen, Mails, Fotos – auch dritter Personen, die ja keine Zustimmung erteilt hatten – wurden entfernt. “Einen Sommer über haben wir dann die Datensätze gesichtet – das war wie Romane lesen,” erinnert sich Block. Man wählte schließlich den Datensatz mit der Nummer 25 aus. Der gehörte offensichtlich zu einer jungen Frau und zeugte von einem sehr bewegten Leben. Es gab Datenspuren eines Abschieds aus Österreich, eines neuen Jobs in London, neuer Bekanntschaften, einer Krankheit und starker psychischer Belastungen.

Mit der Unterstützung der Datenanalystin Katja Dittrich entwickelte Laokoon Algorithmen, die die Google-Suchbegriffe der Person z.B. nach Stimmungen kategorisierten. Block gibt ein Beispiel: „Im Januar 2020 hatte die Person X viele positive Begriffe benutzt und war scheinbar in einer Hochstimmung. Im Dezember 2018 dagegen zeugte der mood score aufgrund der genutzten Begriffe eher von einer dunklen Stimmung.”

Foto: Konrad Waldmann

Daten der Suchanfragen  lieferten Muster und Bilder

Weitere Analysen betrafen Suchvorgänge zu Beruf, Beziehungen, Gesundheit. So entstanden aus den Daten der Suchanfragen langsam Muster und Bilder eines realen Lebens. Um diese zu visualisieren entwickelte Laokoon, zusammen mit einer professionellen Schauspielerin, die die „Datengeberin” verkörpern sollte, Spielszenen aus dem Datenmaterial. Ziel war ein filmisches Reenactment, eine filmische Nacherzählung einzelner Lebensstationen von Datensatz 25. Die Schauplätze dieser Lebensstationen wurden als reale Filmkulissen beim PACT Zollverein in Essen nachgebaut. Dort wurden die Szenen dann auch gedreht.

Im finalen Projektstadium sollte die Realperson dann „livehaftig” mit ihrer Datendoppelgängerin zusammengebracht werden und diese Stationen ihres Lebens – in der Erzählung und auf der Leinwand – präsentiert bekommen. Für Zuschauer*innen birgt dieses Zusammentreffen verblüffende, oft beklemmende Momente. Die Probandin bricht einmal ab, verlässt kurz die Szene, um sich wieder zu sammeln, nachdem ihre „Datendoppelgängerin” sie mit schwierigen Episoden ihres Lebens, mit Magersucht, mit einem Schwangerschaftsabbruch konfrontiert hat.

Der Macher dazu: „Was wir in den Recherchen herausgefunden haben, ist, dass genau solche besonderen Lebenssituationen große Internetfirmen ganz besonders interessieren. Sie stürzen sich sozusagen darauf, denn sie wissen, dass sie ihr jetzt ganz spezielle Produkte anbieten können.”

Im Film kommt u.a. auch Sandra Matz zu Wort, die das Konzept des Psychological Targeting vorstellt. Mit dieser Methode können mit im Netz gesammelten Daten psychologische Profile erstellt und Menschen ganz gezielt, auch politisch, durch bestimmte Beiträge auf ihrem Profil manipuliert werden.

Hans Block bilanziert: “Wenn man diese Methoden auf die gigantische Zahl der Nutzer*innen der großen sozialen Netzwerke und IT-Dienste skaliert, dann merkt man, welches mächtige Werkzeug das ist. Das ist etwas ganz anderes, als ein großes Wahlplakat auf den Alexanderplatz zu stellen.”

 

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Neues vom Deutschlandfunk

Auch beim Deutschlandfunk wird an einer Programmreform gearbeitet. Es gehe etwa darum, „vertiefte Information und Hintergrund“ weiter auszubauen sowie „Radio und digitale Produkte zusammen zu denken“, erklärte ein Sprecher des Deutschlandradios auf Nachfrage. Damit wolle man auch „auf veränderte Hörgewohnheiten“ reagieren.
mehr »

Nicaraguas bedrohte Medien

Die Diktatur des nicaraguanischen Präsidentenpaars Daniel Ortega und Rocio Murillo hat in den letzten Jahren immer mehr Journalist*innen ins Exil getrieben. Unter erschwerten Bedingungen berichten Menschen wie Lucía Pineda vom Nachrichtenkanal "100% Noticias" oder Wendy Quintero nun aus dem Ausland. Für diese Arbeit nehmen sie stellvertretend für viele andere am 26. November 2024 den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung entgegen.
mehr »

Österreich: Gefahr für die Pressefreiheit

In Österreich ist die extrem rechte FPÖ bei den Nationalratswahlen stärkste Kraft geworden. Noch ist keine zukünftige Koalition etabliert. Luis Paulitsch erklärt im Interview, welche Entwicklungen in der österreichischen Medienlandschaft zu erwarten sind, sollten die FPÖ und ihr Spitzenkandidat Herbert Kickl an der Regierung beteiligt werden. Paulitsch ist Jurist, Zeithistoriker und Medienethiker. Von 2019 bis 2024 war er Referent des Österreichischen Presserats, dem Selbstkontrollorgan der österreichischen Printmedien;  seit 2024 bei der Datum Stiftung für Journalismus und Demokratie.
mehr »

KI beinflusst Vielfalt in den Medien

Künstliche Intelligenz kann journalistische Texte in verschiedene Sprachen übersetzen und damit viel mehr Nutzer*innen ansprechen. Gleichzeitig kann sie aber auch Stereotype, die in diesen Texten enthalten sind, verfestigen. Gefahren und Chancen von KI-Anwendungen im Journalismus standen im Fokus der diesjährigen NxMedienkonferenz der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM), die sich für mehr Vielfalt in den Medien einsetzen.
mehr »