Journalist*innen in Afghanistan

Ein Jahr nach dem Sieg der Taliban kämpfen Medien in Afghanistan ums Überleben. Moderatorinnen wie Sonia Niazi und Khatereh Ahmadi dürfen nur noch verschleiert arbeiten - doch ihr Sender TOLO News in Kabul stellt zunehmend Frauen ein.
Foto: picture alliance/Reuters/Ali Khara

Ein Jahr nach dem überstürzten Abzug der NATO-Armeen und der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan blickt Reporter ohne Grenzen (RSF) zurück auf erfolgreiche Evakuierungen. Bei aller Kritik an den Versäumnissen der deutschen Behörden begrüßt die Organisation zugleich den ab September tätigen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Afghanistan-Einsatz und formuliert vorsichtige Hoffnungen für das angekündigte Bundesaufnahmeprogramm. Insgesamt habe das Nothilfe-Sekretariat von RSF die Rettung von 97 Prozent aller Personen abgeschlossen, die im vergangenen Jahr Aufnahmezusagen erhalten hatten.

Da die Bundesregierung ihrer Verantwortung, gefährdete Menschen zu retten, nicht annähernd nachgekommen sei, habe sich vor allem die Zivilgesellschaft engagiert, heißt es in der Pressemitteilung. Die wichtigste Partnerin, mit der RSF eng und vertrauensvoll zusammenarbeitete, war dabei die NGO Kabulluftbrücke.

„Die Evakuierung von 629 afghanischen Journalistinnen und Journalisten und ihren Familien war ein beispielloser Kraftakt in der Geschichte von Reporter ohne Grenzen“, erinnert sich RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. Von den 629 Menschen, die RSF unterstützte, sind 159 Journalistinnen oder Journalisten, hinzu kommen direkte Familienmitglieder. Sie alle hätten inzwischen eine offizielle Aufnahmezusage erhalten. Tatsächlich in Deutschland angekommen seien 606 Personen.

Eine von ihnen ist die Radiojournalistin Zainab Farahmand. Sie wurde mit einer US-amerikanischen Maschine ausgeflogen. Ihre Geschichte ist im RSF-Podcast nachzuhören. Anders als Farahmand harrten viele andere noch immer in Transitländern aus, davon mindestens 110 Medienschaffende in Pakistan, weitere im Iran, Katar, der Türkei und anderen Staaten. Dies seien lediglich die Fälle, mit denen RSF in Kontakt stehe, die tatsächliche Zahl dürfte um ein Vielfaches größer sein.

So erging es zum Beispiel der Journalistin Aziza Mahmudi, die ihr Baby in einem Transitland zur Welt bringen musste und deren richtigen Namen RSF aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich nennen kann. Sie hatte in einer als Taliban-Hochburg bekannten Provinz über Frauenrechte berichtet. Trotz ihrer besonderen Schutzwürdigkeit habe die Bundesregierung sie nicht auf die sogenannte Menschenrechtsliste aufgenommen.

Mahmudi brachte ihr Baby in Indien zur Welt. Selbst danach habe das Bundesinnenministerium den Fall der jungen Frau nicht bearbeitet, den das Auswärtige Amt an das Ressort weitergegeben hatte. Ihr Visum lief ab. Es ließ sich nicht verlängern. Anfang April musste sie mit ihrem Neugeborenen zurück nach Afghanistan, wo sie seitdem mit weiteren Familienmitgliedern in einem Versteck lebt. RSF habe wiederholt bei sämtlichen Behörden nachgehakt und eine Gefährdungsmeldung eingereicht, aber monatelang keine Rückmeldung erhalten.

Wie viele Medienschaffende sich noch in Afghanistan versteckt halten, könne auch RSF nicht beziffern. Man sehe aber ihre Angst als sehr real an: Allein dieses Frühjahr verhafteten die Taliban zwölf Medienschaffende, darunter den Dichter und Journalisten Khalid Qaderi von Radio Norroz, den Nachrichtenjournalisten der Agentur Asvaka, Jawad Etemad, sowie den TV-Journalisten Khan Mohammad Sayal vom Sender Payvasouton TV. 

Wie eine neue Erhebung von RSF belege, waren vor der Machtübernahme der Taliban mindestens 2756 Journalistinnen im Land tätig. Mittlerweile sind es nur noch 656. Damit afghanische Medienschaffende sich unabhängig von ihrem Aufenthaltsort vor Überwachung und Verfolgung im Internet schützen können, habe RSF einen Digital Care Guide erarbeitet.

Ein vom Komitee zum Schutz von Journalisten am 11. August in New York veröffentlichter Bericht zeigt auf, wie die Medien unter den Taliban ums Überleben kämpfen. Im Bericht, aus dem epd zitiert, geht es auch um Widerstand gegen die Beschränkungen. Das habe es während der ersten  Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 nicht gegeben. So wird auf das Beispiel von Tolo News verwiesen. Nachdem Ansagerinnen angewiesen worden waren, ihr Gesicht zu bedecken, hätten männliche Ansager als Zeichen des Protestes zunächst auch ihre Gesichter bedeckt. Tolo News stelle außerdem zunehmend Journalistinnen ein. Die Anzahl der Frauen im Sender sei nach Angaben des leitenden Redakteurs heute größer als vor einem Jahr.

Erfahrungen im deutschen Exil

Kritik übt RSF an den Hürden, die die Medienschaffenden im Exil in Deutschland überwinden müssen. „Stellen Sie sich bitte nur eine Minute lang vor, Sie sind renommierter Journalist und haben mit der GIZ in Afghanistan Medienschaffende ausgebildet“, schildert Katja Heinemann, Leiterin des RSF-Nothilfereferats, die Geschichte eines betagten Journalisten: „Von heute auf morgen müssen Sie alles hinter sich lassen, erhalten im letzten Moment eine Aufnahmezusage, begeben sich auf eine lebensgefährliche Odyssee, werden trotz korrekter Papiere bei der Einreise nach Deutschland fast von der Polizei verhaftet und dürfen dann entgegen aller Zusicherungen ein Jahr lang ihre Frau und ihre Kinder nicht sehen.“ Seine Erfahrung stünden sinnbildlich für die zahlloser geflüchteter Medienschaffender.

Der Mehrheit der von RSF betreuten Medienschaffenden sei behördlich verboten worden, in die Stadt ihrer Wahl zu ziehen, in der sie berufliche Kontakte haben und journalistisch weiterarbeiten können. „Die Journalistinnen und Journalisten wurden in kleine Provinznester geschickt, Familien wurden zerrissen“, kritisiert Heinemann.

Angesichts der Kaskade an Versäumnissen und der vielen offenen Fragen setzt RSF seine Hoffnungen auf den den Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags, der nach der Sommerpause die offenen Fragen beantworten soll. „Wir begrüßen den Untersuchungsausschuss zu Afghanistan ausdrücklich und bringen uns selbstverständlich gerne bei der Aufklärung ein“, betont Mihr. Klar sei schon heute, dass der Zeitraum, den der Ausschuss untersuchen will, mit dem 30. September 2021 deutlich zu früh endet, weil ein großer Teil der Fehler später gemacht worden sei. RSF fordert, dass die Bundesregierung das versprochene Bundesaufnahmeprogramm umsetzt.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Afghanistan auf Platz 156 von 180 Staaten.

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