Am Anfang war’s eine Dokumentation über ein Schlüsselkind, am Ende wurde daraus ein Langzeitprojekt: Ein Jahrzehnt haben Tine Kugler und Günther Kurth den damals zehnjährigen Pascal aus Berlin-Hellersdorf durch die Höhen und Tiefen seines jungen Lebens begleitet; ein Experiment mit völlig offenem Ausgang. Der Film hatte auf der Berlinale im vergangenen Jahr Premiere und kommt nun am 26. Januar in die Kinos.
„Kalle Kosmonaut“ beginnt, als Pascal 16 ist: ein Teenager mit wachem Blick und sympathischen Sommersprossen. Aber Kalle hat eine furchtbare Dummheit begangen und einen Mann verletzt. Er würde dem Opfer gern sagen, dass es ihm leidtut, und hat Angst vor der ungewissen Zukunft. Etwas später verrät der Film, wo Kalle die nächsten zwei bis drei Jahre verbringen wird. Vorher blenden Kugler und Kurth (Buch, Regie, Schnitt) jedoch zurück. Kalle ist zehn und meistens allein, weil seine alleinerziehende Mutter arbeitet. Der Junge scheint damit gut klarzukommen: Hauptsache, man hat zu essen, zu trinken, Kleidung, ein Dach über dem Kopf; und Spielsachen. Drei Jahre später hat Kalle einen enormen Entwicklungssprung gemacht. Er ist jetzt 13, wirkt aber älter, zumal er sehr reflektiert spricht und sich gut ausdrücken kann. Er sei anders als die anderen, sagt er, und wolle was erreichen, um nicht irgendwann als Bettler auf dem „Alex“ oder als Kloputzer zu enden; er will kein „Getto-Kid“ sein. Aber dann ist irgendwas schiefgelaufen. Falsche Freunde und Drogen haben schließlich dazu geführt, dass Kalles Lebensweg ihn dorthin führt, wo „Getto-Kids“ zu oft landen: im Knast.
Kugler und Kurth haben auf einen Kommentar oder andere Formen der Erläuterungen verzichtet, was zur Folge hat, dass sich die optische Ebene nicht immer auf Anhieb erschließt, aber das ist nicht wichtig, denn meist beantwortet der Film die entsprechenden Fragen irgendwann doch noch. Entscheidend ist der große Bogen, den „Kalle Kosmonaut“ (Pascal wohnt in der Allee der Kosmonauten) schlägt. Der Film beginnt zwar 2011, aber Kalles Geschichte ist zwanzig Jahre älter, wie ein Besuch bei seinen Großeltern offenbart. Sie stehen für viele Ostdeutsche, denen die „Wende“ den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Der Opa ist heute noch voller Verbitterung, die Oma hat irgendwann angefangen zu trinken; der kleine Kalle hat das alles mitbekommen. Selbstredend musste er deshalb nicht automatisch auf der schiefen Bahn landen, aber das legt der Film auch keineswegs nahe. Kugler und Kurth, die zu „Kalle Kosmonaut“ durch das (allerdings inszenierte) Langzeitprojekt „Boyhood“ (2014) von Richard Linklater inspiriert worden sind, beschränken sich mit ihren Schlaglichtern und Momentaufnahmen darauf, Puzzle-Stücke anzubieten; das fertige Bild überlassen sie dem Publikum.
Natürlich war die Kamera im Verlauf der langen Zeit nicht immer dabei. Der Kontakt ist jedoch auch während der Haftjahre nicht abgebrochen, wie Kalles Briefe aus dem Off vorgelesene verdeutlichen. Die Leerstellen füllt der Film mit sparsam animierten, grafisch aber sehr interessanten Zeichentricksequenzen (Alireza Darvish), die nicht nur die Jahre im Gefängnis, sondern auch das Innenleben des Jungen illustrieren. Diese ausdrucksstarken Bilder sind ebenfalls nicht immer auf Anhieb verständlich, zumal Fotorealismus offenkundig ohnehin nicht das Ziel war; einmal wird die Straße von einem furchteinflößenden Drachen blockiert.
Nach seiner Entlassung aus der Haft will Kalle die Vergangenheit hinter sich lassen. Damit der erhoffte „komplette Neustart“ gelingt, muss er raus aus seinem Kiez. Es wäre schön, wenn Kugler und Kurth ähnlich wie weiland Barbara und Winfried Junge mit ihrem zwanzig Filme umfassenden Zyklus „Die Kinder von Golzow“ (1961 bis 2007) in zehn Jahren erzählen würden, wie es mit Kalle weitergegangen ist.
„Kalle Kosmonaut“ ab 26. Januar im Kino – Termine hier