Spätestens seit dem Gruppensieg der deutschen Nationalelf wechselte die Stimmung im Lande von Skepsis zu Optimismus. Ausgedrückt in Zahlen: Vor dem Start des Turniers trauten gerade mal sieben Prozent der Mannschaft den Titelgewinn zu, nach drei Partien stieg dieser Wert auf 36 Prozent. Entsprechend wuchs auch das Interesse an den TV-Übertragungen.
Das Achtelfinale der EM „dahoam“ sahen bereits mehr als 25 Millionen. Bis zum bisherigen Rekord von 34,65 Millionen Zuschauer*innen beim WM-Finalsieg über Argentinien vor zehn Jahren ist aber noch reichlich Luft.Die gezeigten sportlichen Leistungen rechtfertigen die vorsichtige Euphorie bislang allemal. Anders als noch bei der WM in Katar stand der Sport im Vordergrund – keine verunglückten Diskussionen über Fußball und Menschenrechte, keine symbolisch aufgeladenen Posen mit vorgehaltener Hand. Millionen Möchtegern-Bundestrainer*innen staunten über den Spielwitz der „Nagelsmänner“, die Dribblings von Wirtz und Musiala, die Joker-Qualitäten von „Fülle“, die ruhige Spielführung eines Toni Kroos – selbst der anfangs als Unsicherheitsfaktor umstrittene Oldtimer Neuer im Tor konnte sich schnell rehabilitieren.
Leicht imageschädigend für den einstigen Organisationsmusterknaben Deutschland wirkten allerdings diverse Pannen. Die Performance der Deutschen Bahn fiel gewohnt schauerlich aus. „Die unzähligen Verspätungen und Unterbrechungen im Zugnetz sind keine Überraschung, sondern ein frustrierender Normalzustand für die Deutschen“, urteilte die New York Times. Womit zumindest das jahrzehntelang gepflegte Klischee von den ach so effizienten Teutonen einmal mehr zertrümmert wäre. Auch die vor einiger Zeit von Manuel Neuer geäußerte kühne These, bei seinem Geburtsort Gelsenkirchen-Buer handle es sich im Grunde genommen um eine Art „Monaco des Ruhrgebiets“, mochte kaum ein Besucher der Veltins-Arena teilen. „Ein absolutes Drecksloch“, ereiferte sich ein britischer Fan. Wobei anzumerken wäre, dass auch nordenglische ehemalige Kohlestädte wie Newcastle nicht unbedingt zu den architektonischen Weltkulturstätten zählen. (Transparenzhinweis: Der Autor ist gebürtiger Gelsenkirchener.)
Politik und Sport – seit jeher ein schwieriges Verhältnis. Einen Moment dachte man, Bundestrainer Nagelsmann habe die aufgrund einer WDR-Umfrage kurz aufgeflammte Debatte über die Hautfarbe deutscher Nationalspieler mit seinem Kraftwort „Scheißumfrage“ definitiv beendet. Schon blamierte sich Grünen-Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckhardt mit einem identitätspolitisch vergifteten Lob für diese „wirklich großartige“ Mannschaft („Stellt euch kurz vor, da wären nur weiße deutsche Spieler.“) Was ihr vom Extremismusforscher Ahmad Mansour die direkte rote Karte eintrug: „Wer bei der deutschen Nationalmannschaft die Hautfarbe der Spieler thematisiert, betreibt Rassismus, unabhängig von der Motivation dahinter.“
Rollt erst mal der Ball, bleibt in der Live-Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Anstalten meist wenig Platz für die hässlichen Seiten des Sports. Diesem Dilemma entkommen ARD und ZDF dankeswerterweise durch komplementär ausgestrahlte und in die Mediatheken gestellte hintergründige Dokumentationen. Wie sehr Diskriminierung, Rassismus und Hate Speech den Alltag vieler Sportler*innen bestimmen, belegt eindrucksvoll die ARD-Doku „Einigkeit und Recht und Vielfalt“ von Philipp Awounou (die auch die oben kritisierte Umfrage enthält, allerdings mit entsprechendem Kontext). Von den üblen rassistischen Beschimpfungen des späteren Nationalspielers Gerald Asamoah in den „Baseballschläger-Jahren“ über den auch von der Boulevardpresse provozierten Abstieg des einstigen Nationalhelden Mesut Özil (er hatte für ein Foto neben Erdogan posiert) bis zu den hate-speech-getränkten Empörungswellen in heutigen sozialen Medien.
Sehenswert auch die ZDF-Doku „Joshua Kimmich – Anführer und Antreiber“. In diesem Porträt spricht der Bayern-Spieler über die Hetzjagd, der er während der Corona-Pandemie ausgesetzt war. Seinerzeit wurde er wochenlang angefeindet, weil er sich nicht impfen lassen wollte. Erst jetzt hat Kimmich den Mut, über seine damalige Situation zu sprechen. Ein Freund, so berichtet er, habe ihm seinerzeit vorgeworfen, „für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich“ zu sein. Auch habe der FC Bayern ihm während der Quarantäne kein Gehalt gezahlt. Medienvertreter hätten ihn damals bis auf die Beerdigung seines Großvaters verfolgt und bedrängt. Inzwischen wird im Bundestag von Linken, BSW und FDP ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur Prüfung der staatlichen Krisenpolitik in Sachen Corona gefordert.
Die Kimmich-Doku löste auch mal wieder eine Kontroverse über Glanz und Elend des hiesigen Sportjournalismus aus. „Im Fußball-Medien-Deutschland sucht man sich immer das aus, was später eine Instagram-Kachel wird“, ereiferte sich etwa EM-Experte Christoph Kramer im ZDF. Seine Kritik bezog sich auf die von ihm beobachtete Neigung vieler Medien, einzelne Zitate mit voraussichtlich großer Resonanz in den sozialen Medien zu posten. Dies sei für ihn „kein Journalismus mehr“. Zugleich beeilte sich der Ex-Weltmeister, den Eindruck von Pauschalkritik zu zerstreuen. Er wisse schon, dass es auch noch „verdammt viele gute Journalisten“ gebe. Aber: „Die Allgemeinheit ist einfach nur: schnelle Klicks und möglichst hohe Erfolgszahlen bei Instagram.“ Unter diesen Umständen überlege sich der Einzelne „100 Mal, was man noch sagt“. Das wiederum verhindere „Typen“, die nicht nur stromlinienförmig angepasste Allgemeinplätze absonderten.
Ein solcher Typ ist zweifellos Dortmunds Torjäger Niclas Füllkrug, der nach dem Remis gegen die Schweiz die Gelegenheit nutzte, auf ironische Weise mehr Sprachsensibilität in der Berichterstattung einzufordern. Konkret ging es um den Begriff „Spielermaterial“, den die Experten Per Mertesacker und Christoph Kramer verwendet hatten. ZDF-Moderator Breyer gelobte Besserung und will künftig lieber von „Kader“ oder „Spielpotenzial“ reden.
Ein sportliches Großevent wie die Fußball-EM liefert interessierten Gruppen und Verbänden oft auch eine Bühne für rechtsextremistische Aktivitäten. In der Berichterstattung spielte dies bislang eher am Rande eine Rolle, vermutlich auch mangels entsprechender Kenntnisse nationalistischer Symbole und Gesänge auf Seiten der Reporter*innen. Eine Ausnahme war das zeigen des sogenannten Wolfsgruß, Erkennungssymbol der rechtsextremen türkischen Bewegung der „Grauen Wölfe“, durch den Torschützen der türkischen Auswahl Merih Demiral.
Durch das Aufblasen des Teilnehmerfeldes auf 24 Nationen hatten sich in diesem Jahr gleich vier Länder aus der Balkan-Region qualifiziert: Serbien, Albanien, Kroatien und Slowenien. Was prompt zu den erwartet unschönen Szenen führte.
Angesichts unverheilter Wunden aus den Bürgerkriegen der 1990er Jahre suchen die radikalen Fans oft mit unverhohlen nationalistischen Hass-Gesängen ihr Mütchen zu kühlen. Da forderten Kroaten und Albaner schon mal „Tod den Serben“. Serbische Fans wiederum huldigten vor dem Spiel gegen Slowenien in Sprechchören dem verurteilten serbischen Kriegsverbrecher Ratko Mladic. Im albanischen Fanblock war die Flagge der UCK zu sehen – eine paramilitärische Organisation, die in den 90ern für die Unabhängigkeit des Kosovo kämpfte und der etliche Kriegsverbrechen vorgeworfen werden.
In der zweiten Turnierhälfte dürfte es solche Bilder nicht mehr geben. Mit Ausnahme von Slowenien sind alle Mannschaften vom Balkan bereits ausgeschieden.