Buchtipp: Die Zeit des Lichts

Buchcover

Cover-Model – Modekorrespondentin – Kriegskorrespondentin – Korrespondentin für Haus und Heim. Vier Kennzeichnungen, die ein Leben beinhalten. Das der Fotografin Lee Miller, weltberühmt geworden mit ihrem Foto in Hitlers Badewanne. In Whitney Scharers Debut-Roman nimmt dieser Lebensweg faszinierende Gestalt an. Verwoben mit den historischen Fakten zeichnet die Autorin das fiktive Porträt einer außergewöhnlichen Frau – und das reale Porträt einer außergewöhnlichen Epoche.

Zwei Jahre hat Scharer, genau wie Lee Miller US-Amerikanerin, für ihr Erstlingswerk recherchiert. Rund um die biographischen Fakten erschafft sie Figuren, die historischen Fakten reichert sie an mit fiktiven Begebenheiten. Inspiration und Ursprung des Schreibens seien die Bilder gewesen, schreibt die Autorin im Nachwort. Bilder, die Lee Miller als Modell zeigen und Bilder, die Lee Miller als Fotografin gemacht hat. So ist die Fotografie das zentrale Motiv des Romans, manch eingeschobene Szene erscheint gar vollständig als literarische Transkription eines einzelnen Fotos. Doch über allem schwebt der Schleier der Fiktion, denn „Lee als die komplizierte Frau zu schildern, die sie war“, sei ihr wichtiger gewesen, „als mich sklavisch innerhalb der überlieferten Fakten zu bewegen“, schreibt Scharer.

Der zentrale Erzählstrang des Romans beschreibt das Leben Lee Millers von ihrer Ankunft in Paris 1929 bis zu ihrer Trennung von Man Ray knapp zwei Jahre später. Die morbide anmutende Beziehung zu dem berühmten Maler, Fotografen und Filmemacher steht im Mittelpunkt der Geschichte. Unterbrochen wird die Linearität des Erzählten durch eingewobene Rückblicke in Lees Kindheit, zentriert um die Beziehung zu ihrem Vater. Eingeschoben sind auch von den Kapiteln abgetrennte kurze Szenen, die verschiedene Begebenheiten aus dem Alltag der Kriegsreporterin Lee Miller erzählen – bis sie 1947 den  Maler und Fotografen Roland Penrose heiratet, weil „sie merkt, dass er der einzige Mensch ist, den sie mehr als ein paar Stunden um sich haben kann. Er will nichts von ihr – anders als Man, der alles wollte, und anders als der Krieg, der ihr alles genommen hat.“

Lees Beziehung zu Männern ist widersprüchlich. Sie hat zahlreiche Affären, sich längerfristig zu binden, gelingt ihr jedoch nicht. Ihre Gefühle äußern sich stets in kühler Körperlichkeit: Etwa, wenn sie fast an ihrem Hass erstickt. Oder die drei kleinen Worte „Ich liebe dich“ ungefragt der Sehnsucht entspringen, die in ihrem Magen rumort.

An der Chronologie des beruflichen Werdegangs von Lee Miller wird zugleich die Entwicklung der weiblichen Emanzipation im letzten Jahrhundert erkennbar. Durften Frauen in den Golden Zwanzigern auch rauchen, trinken, arbeiten und einen freizügigen Lebensstil führen, so war ihre Emanzipation doch nur eine oberflächliche. Der Zutritt zu den Männerdomänen blieb ihnen verwehrt. Auch in den Pariser Künstlerkreisen, die Sharer beschreibt, waren Frauen vornehmlich Accessoires, die Freundin oder Frau dieses oder jenes Künstlers. Dem folgte eine aus der Not des Krieges geborene kurzzeitige weibliche Emanzipation, bevor Frauen mit dem Beginn des wirtschaftlichen Aufschwungs wieder ins Haus und an den Herd zitiert wurden.

Wenn Lee Miller im Prolog, der zeitlich nach der eigentlichen Romangeschichte in einem Landhaus in Sussex 1966 spielt, den ganzen Tag über heimlich trinkt und ihren Gästen sturzbetrunken das Dinner serviert, dann ahnt man, dass sie nicht nur ihre Erfahrungen im Krieg betäuben will, sondern auch den Schmerz über die verlorene Freiheit und das Gefangensein im ländlich-häuslichen, vermeintlichen Idyll.

Wer das Buch durchgelesen hat, kann sich möglicherweise nicht so leicht von der Geschichte der berühmten Fotografin lösen. Mit der Mischung aus Fakten und Fiktion gelingt es der Autorin, ihre Leserinnen und Leser neugierig zu machen. Neugierig auf das Leben Lee Millers neben, vor und nach den fotografischen Ausschnitten, die Scharer uns in ihrem Roman präsentiert.

Whitney Scharer: Die Zeit des Lichts, übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner, Klett-Cotta 2019, 392 S., 22 Euro, ISBN: 978-3-608-96340-3

 

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Echte Menschen in Film und Fernsehen

Wie wird Künstliche Intelligenz das Filmgeschäft verändern? Und welche Auswirkungen hat die Technologie auf die Kreativen? Die Erwartungen an KI sind groß, die Befürchtungen aber auch. Denn Algorithmen können mit Hilfe von großen Datenmengen schon heute Stimmen oder Deepfakes erstellen. Auf der Fernseh- und Streaming - Messe MIPTV in Cannes beschäftigte das Thema die internationale Branche.
mehr »

Leipzig: Rechtswidrige Durchsuchung

Ein 19-jähriger Journalist hatte im Juni vergangenen Jahres Fotos einer Antifa-Demonstration im Internet veröffentlicht. Die Staatsanwaltschaft Leipzig durchsuchte daraufhin seine Wohnräume und beschlagnahmte mehrere Datenträger. Seine nachgewiesene journalistische Tätigkeit wurde dabei ignoriert. Das Landgericht Leipzig bezeichnet das Vorgehen nun als rechtswidrig.
mehr »

Fake oder Fiktion: Wer darf was?

Bei Fake News dreht es sich meist um Falschaussagen, Lügen, die als Journalismus getarnt sind oder Angriffe auf die Pressefreiheit. In der Literatur hat Wahrheit und Authentizität einen ganz anderen Stellenwert. Bei der Gesprächsrunde „Fake News oder Fiktion?“ auf der diesjährigen Buchmesse im Leipzig loteten die Teilnehmer*innen die Grenzen zwischen journalistischen und belletristischen Formaten aus.
mehr »

Die Stimmung ist pressefeindlich

In Deutschland hat sich in den letzten Jahren eine immer pressefeindlichere Stimmung ausgebreitet, das zeigt die jetzt veröffentlichte Nahaufnahme Deutschland von Reporter ohne Grenzen (RSF). Während der Pandemie schnellte die Zahl der Übergriffe auf Berichterstattende in die Höhe. Auch der Rückblick auf das vergangene Jahr zeigt: Diese Tendenz ist noch nicht vollständig zurückgegangen. Für 2023 konnte RSF 41 Übergriffe auf Medienschaffende verifizieren. Im Jahr 2022 waren es 103.
mehr »