„In dem Moment, in dem Sprache für mich nicht mehr funktionierte, begann ich, sie in ihrer Struktur wahrzunehmen.“ Journalistin und Netzaktivistin Kübra Gümüsay zeigt in ihrem sehr persönlichen ersten Buch „Sprache und Sein“ anhand zahlreicher Beispiele, wie Sprache Welten erschließen, aber auch Menschen von Diskursen ausschließen kann. Sie plädiert für mehr Toleranz, die jedoch nicht grenzenlos sein darf.
In zehn Kapiteln analysiert Gümüsay die „Architektur der Sprache“ und ihre Rolle für das Zusammenleben der Menschen. Ihre Spurensuche entlang der eigenen Entwicklung beginnt mit dem Türkischen, der „Sprache der Liebe und Melancholie“, es folgen Arabisch, Deutsch und Englisch. Jede Sprache sei ein neuer Existenzraum, aber nicht für alle: „Wir, die Fremden, wachsen in einer Sprache auf, in der wir als Sprechende nicht vorgesehen sind, …in der unsere Perspektiven nicht vorkommen, sondern nur die Perspektiven derer, die über uns sprechen.“. Was nicht zur Sprache kommt, existiert nicht. So war z.B. „sexuelle Belästigung“ in den 1990er Jahren kein Thema, erst das Internet ermöglichte das „Teilen ungehörter Erfahrungen“, schreibt die Autorin und nennt Initiativen wie #SchauHin, #aufschrei, #metoo oder #metwo, in denen sie selbst sich engagierte.
So geht es Menschen, die nicht in ihrer Individualität, ihrem Facettenreichtum wahrgenommen werden, sondern immer als Repräsentant*innen einer Gruppe adressiert werden. „Ich bin eine muslimische Frau“, schreibt Gümüsay und wünscht sich, nicht mehr als solche inspiziert zu werden: “Erst wenn wir widersprüchlich, facettenreich und unverstanden sein dürfen, können wir menschlich und frei sein.“ Sie hinterfragt ihre Rolle, die sie in Talkshows hatte. In einer Debatte zu Islam und „deutscher Leitkultur“ glaubte sie, „Vorurteile aus dem Weg räumen“ zu können, musste dann aber feststellen, dass sie „Teil eines Geschäftsmodells war: der Angst vor dem Islam“. Selbstkritisch bekennt sie, es sei ein Fehler gewesen, „jahrelang dieses Spiel mitzuspielen, bei dem es darum geht, Menschen Etiketten anzuheften“. Mit ihrem „Ja, aber…“ gefolgt von Zahlen, Daten, Fakten fühlte sie sich wie eine „intellektuelle Putzfrau“, die „den anderen vergeblich ihren Bullshit hinterher räumt“.
Die weniger Privilegierten seien ein Seismograf für die Herausforderungen der Zukunft: Klimakrise, Armut, gesellschaftliche Polarisierung. Als „Zielscheibe der Rechten“ hätten sie schon vor dem Rechtsextremismus gewarnt, bevor er zur ernsten Bedrohung der Demokratie wurde. Bereits seit 2006, als sie ihren ersten Artikel für „Die Zeit“ schrieb, bekomme sie Hasskommentare, so Gümüsay, Ihre Kolleg*innen erkannten und beschrieben diesen Hass aber erst zehn Jahre später als Problem. Die Gesellschaft müsse „Menschenfeindlichkeit in ihre Schranken verweisen“, denn: „Rechte und Rassist*innen bestimmen unsere Agenda.“ Wer trotz der Diskussionen um gerechte Sprache Begriffe wie das N-Wort verwende, „bekennt sich zur Ächtung von Menschen“.
Zwar brauchen Menschen Kategorien, um sich durch die Welt zu navigieren. Doch wenn sie glaubten, die eigene begrenzte Perspektive sei vollständig und universal, führe das zu einem Anspruch auf Macht und Unterdrückung. “Wir brauchen zahlreiche Betrachtungen dieser Welt aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen“, resümiert die Autorin, wendet sich aber gegen „grenzenlose Toleranz“ und fordert Regeln. So werde sie manchmal gefragt, „ob sie mit Kopftuch dusche“. Wenn eine Frage weder gesellschaftlich relevant noch konstruktiv sei, sondern Menschen lächerlich mache, Angst und Ohnmacht verbreite, solle man sich einem solchen entmenschlichenden Diskurs verweigern.
Gümüsay will mit ihrem Buch beitragen zur Suche nach einer Sprache, „in der alle gleichberechtigt sprechen und sein können“. Dabei reichert sie Persönliches an mit Zitaten, Anekdoten, wissenschaftlichen Erkenntnissen oder poetischen Sinnsprüchen – aus Koran, Kommunikations- oder Genderforschung, nicht immer neu, aber neu zusammengestellt. Ein Quellennachweis mit Erläuterungen rundet ihr Plädoyer ab, das zugleich ein Kampf gegen Etikettierungen ist.
Kübra Gümüsay: Sprache und Sein. Hanser Verlag, Berlin 2021 (Erstauflage 2020), 208 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-446-26595-0