Digitale Medien und Gewalt gegen Frauen

Sogar die deutsche Vogue titelte im vergangenen Jahr "No more Shame".

Anlässlich des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen zeigen sich am 25. November in Deutschland viele öffentliche Gebäude, so auch Gewerkschaftshäuser, in orangem Licht. In unterschiedlichen Aktionen wird die steigende Zahl der Femizide angeprangert und Unterstützung für die Überlebenden sexueller Gewalt eingefordert. Welche Rolle digitale Medien dabei spielen können, war auch ein Thema auf der Tagung Gender, Macht und Mobilität in Tübingen.

Gegen die Normalisierung sexualisierter Gewalt und die Komplizenschaft der Medien bei der Aufrechterhaltung einer patriarchalen „rape culture“, in der Gewalt gegen Frauen toleriert und normalisiert wird, haben sich Aktivistinnen schon seit der Frauenbewegung der 1970er Jahre gewehrt.

Aber erst durch Bewegungen wie #MeToo fanden die Stimmen von Überlebenden sexualisierter Gewalt Gehör und ermöglichten feministische Gegennarrative, Solidarität und Mobilisierung auf Social Media. Allerdings gibt es gerade hier auch viele frauenfeindliche Gegenreaktionen. Oder affektive Erzählungen von jungen Content-Creator*innen über geschlechtsbasierte Gewalt, die kaum als solche eingeordnet wird.

„Scham muss die Seiten wechseln!“

Die Berliner Medienforscherinnen Margreth Lünenborg und Annabella Backes betrachten die algorithmisierten Plattformen als „Affektgeneratoren“ und Teilen, Liken, Kommentieren, Handeln der Nutzenden als „affektive Medienpraktiken“. Sie untersuchten Reaktionen auf TikTok zu den Vergewaltigungsfällen im französischen Dorf Mazan. Dort wurde Gisèle Pelicot zehn Jahre lang von ihrem Mann unter Drogen gesetzt und von mehr als 50 Männern vergewaltigt. Bei der Analyse von TikTok-Beiträgen zwischen August und Dezember 2024 konzentrierten sie sich auf Pelicots Aussage: „Scham muss die Seiten wechseln.“

Die Forschenden identifizierten fünf zentrale affektive Medienpraktiken. „Feministische Bildung“ versuche, den Fall anderen in seinem sozio-politischen Kontext zu erklären. Affektiv reiche die Vermittlung von eher emotionslosen Erklärungen bis hin zu zynischer Empörung. Im Gegensatz zu traditionellen Nachrichtensettings würden feministische Bildungsinhalte oft in legerer Kleidung, im Selfie-Modus und in privaten Räumen gefilmt, was der bekannten Ästhetik der „Girl’s bedroom culture“ auf TikTok ähnele.

„Affektives Bezeugen“ beinhalte das öffentliche Teilen von Gefühlen wie Unglauben, Angst, Wut und Traurigkeit, die in vielen Videos zur Gerichtsverhandlung ausgedrückt werden. Das schaffe ein Gefühl der Nähe und biete Identifikationsmöglichkeiten. „Ikonisierung“ stelle Pelicot als feministische Heldin dar, die den Diskurs von Scham auf Stolz verlagert. Ein Beispiel dafür sei das Cover der Vogue (Deutsch) am „Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen“ 2024, das sofort auf TikTok gefeiert wurde.

„Beschämung“ stelle die soziale Straflosigkeit der Täter infrage und übernehme damit Pelicots Aufforderung, die Scham auf sie zu verlagern. Während Dominique Pelicot offen zugab, seine Frau vergewaltigt zu haben, suchten die meisten Angeklagten Ausreden und verbargen ihre Gesichter. Um diese Männer dennoch zu entlarven und zur Rechenschaft zu ziehen, wurden ihre Bilder, Namen, persönliche Informationen und Zitate auf TikTok veröffentlicht.

Durch „Feministische Querverweise“ wie #feminisme oder #MeToo sei der Fall mit breiteren Kämpfen verbunden und zur Stärkung feministischer Netzwerke der Solidarität genutzt worden. Die Hashtags fungierten als Knotenpunkte und betteten die Erzählungen der Nutzenden in die laufenden Kämpfe für Geschlechtergerechtigkeit ein.

Affektive Mobilisierung ist ambivalent

Die Berliner Forscherinnen konstatieren auch, dass die affektive Mobilisierung auf TikTok ambivalent ist. Einerseits biete die Plattform niedrigschwellige, affektive Zugänge zu politischen Themen. Die Medienpraktiken förderten kollektive Resonanz und ermöglichten durch algorithmische Verstärkung virale Sichtbarkeit. Anderseits werde die feministische Kritik durch Plattformlogiken und Affektökonomien „zugerichtet“.

Auch Christine Linke von der Hochschule Wismar thematisiert die ambivalente Darstellung von geschlechterbasierter Gewalt auf Social Media, die sowohl zur Stabilisierung als auch zur Veränderung der Geschlechterordnung beitragen kann. Am Beispiel des Unterhaltungsgenres „True Crime“ auf Instagram und YouTube zeigt sie, wie in den Beiträgen, die Verbrechen rekonstruieren, „visuelle und narrative Strategien der Content Creation zwischen intimer Selbstinszenierung und teils durchaus Empathie und ausbeuterischer Sensationalisierung geschlechtsbasierter Gewalt changieren“. Storytelling diene zur Generierung von Klicks – als Strategie zum Geldverdienen oder zum Aufbau einer Community.

In zwei Fallstudien analysiert sie, wie Content Creator*innen auf Plattformen von geschlechtsbasierter Gewalt erzählen und wie sie dabei Intimität erzeugen. Da ist zunächst Bailey Sarian mit ihrem YouTube-Kanal Murder, Mystery & Makeup  mit 7,8 Millionen Abonnent*innen. Die Amerikanerin, die sich schminkt, während sie von den Verbrechen erzählt, habe die Fälle anfangs sorgfältig recherchiert, präsentiere sie nun aber wie am Fließband mit viel Product Placement. Die zweite Fallstudie nimmt Mord am Mittwoch der deutschen YouTuberin Lucia Leona unter die Lupe, die fast 500.000 Abonnent*innen hat und ihr Konzept in eine Live-Show-Reihe überführt hat. Mit sanfter Stimme erzählt sie wie eine „beste Freundin“ von den abscheulichsten Verbrechen. Aufgrund der Kommentare vermutet Linke eine minderjährige Zielgruppe und findet es fatal, dass Leona Kindern und Jugendlichen Gewalt schockierend detailliert präsentiert, aber die Chance verpasst, sie über Kontexte sexualisierter Gewalt aufzuklären.

Ihr Fazit: In beiden Fällen erzählen die Creator*innen affektiv von geschlechtsbasierter Gewalt. Diese werde entsprechend der Plattformlogiken ökonomisch verwertet, doch kaum als sexualisierte Gewalt bzw. „Femizid“ adressiert und auch nicht strukturell eingeordnet. Leid und Auswirkungen für Betroffene, Hilfsangebote, Anti-Gewaltarbeit und Prävention blieben zumeist unsichtbar. Die Forscherin warnte vor den Gefahren der narrativen „Trivialisierung“ und potentiellen politischen Instrumentalisierung.

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