Eines Tages sah die amerikanische Regisseurin und Produzentin Pamela B. Green einen Film über Pionierinnen des Kinos, darunter auch Alice Guy. Green wunderte sich, dass ihr der Name überhaupt nichts sagte. Sie hörte sich bei Kolleginnen und Kollegen um und erhielt überall die gleiche Antwort: nie gehört. Wie konnte es sein, dass eine offenbar derart wichtige Figur aus der Frühzeit des Films völlig unbekannt ist? Sie begann zu recherchieren. Am Ende steht im Originaltitel: „Be Natural – The Untold Story of Alice Guy-Blanché“.
Während sich die meisten Männer nach der Erfindung des Kinos im Jahr 1895 zunächst damit begnügten, Alltagssituationen zu filmen, erzählte die damals 22-Jährige Pariserin Alice Guy fiktionale Geschichten. Sie experimentierte mit Farbe und Ton und wurde zur treibenden kreativen Kraft hinter Gaumont, dem ältesten noch existierenden Produktionsunternehmen der Welt. In den folgenden 25 Jahren war Guy in Frankreich und den USA als Regisseurin, Autorin und Produzentin für mindestens siebenhundert Filme verantwortlich. In der von Männern verfassten Filmgeschichte ist sie jedoch unterschlagen worden. Offenbar konnten sich die Filmhistoriker nicht vorstellen, dass eine Frau auch in technischer Hinsicht so viel beschlagener war als ihre männlichen Zeitgenossen.
Natürlich ist es aller Ehren wert, dass Pamela Green die Leistung Alices Guys nun der Vergessenheit entreißt, aber diese Tatsache allein macht ihr vielfach ausgezeichnetes Werk noch nicht zu einem besonderen Film. „Be Natural“ ist jedoch ein visuelles Ereignis: Green erzählt nicht nur die Lebensgeschichte der Filmpionierin, sie dokumentiert auch die eigene Recherche, die sie kreuz und quer durch Amerika und natürlich auch nach Europa geführt hat. Der Streifen ist eine Collage aus uralten verschollen geglaubten Fundstücken und animierten Grafiken, ergänzt um eine Vielzahl oftmals nur winziger Gesprächsausschnitte; der Abspann führt weit über hundert Interviewpartner auf, darunter viele prominente Kinogrößen. Der Film wurde maßgeblich von Robert Redford unterstützt, als Erzählerin konnte Jodie Foster gewonnen werden.
Greens Idee, das Porträt um die Beschreibung der achtjährigen Odyssee durch die Filmgeschichte zu ergänzen, erweist sich als brillant, zumal „Be Natural“ – Kinostart ist am 5. August – ansonsten nur aus Schwarzweißaufnahmen bestanden hätte. Der Titel (sinngemäß: „Sei du selbst“) bezieht sich auf ein Motto, das Alice Guy-Blaché, wie sie nach ihrer Heirat mit dem Kameramann Herbert Blaché hieß, in großen Lettern an ihrem Studio in New Jersey angebracht hatte; es sollte die Mitwirkenden ihrer Filme daran erinnern, sich vor der Kamera möglichst natürlich zu verhalten. Schon der Prolog, eine Zeitreise zu den Anfängen des Kinos, ist ein Erlebnis; es ist praktisch unmöglich, all die Eindrücke bewusst wahrzunehmen, die die ebenso einfalls- wie abwechslungsreichen Gestaltung des Films bietet. Green findet auch für banale Recherchemomente wie ein Telefonat mit den Enkelinnen eines Weggefährten Guys ansprechende Bilder. Selbst der Versuch, einer nicht mehr abspielbaren Videokassette im Labor doch noch bewegte Bilder abzutrotzen, wird zu einem spannenden Prozess.
Die 1968 verstorbene Guy hat schon vor über hundert Jahren Filme über Antisemitismus, Feminismus und die Arbeiterbewegung gemacht. Sie hat als Produzentin der ersten Amerikanerin ermöglicht, Regie zu führen; und sie hat als erste einen Film nur mit schwarzen Schauspielern gedreht, weil sich die Weißen weigerten, gemeinsam mit „Farbigen“ aufzutreten. Auch angesichts der Forderung, in der Filmbranche endlich Gleichberechtigung walten zu lassen, kommt Greens Hommage an Guy gerade recht.