Der Titel könnte für alles Mögliche stehen, aber „Girl Gang“ handelt nicht von einer jugendlichen Clique. Der Film dokumentiert den Alltag einer jungen Berlinerin, die unter dem Namen „Leoobalys“ zu den Topstars der Influencer-Szene gehört. Ihre Gefolgschaft umfasst weit über 1,5 Millionen größtenteils junge Menschen, und die sollen natürlich all die Produkte kaufen, die ihr Idol vorstellt.
Sehenswert ist „Girl Gang“ vor allem, weil Regisseurin Susanne Regina Meures, bekannt geworden durch ihr mehrfach ausgezeichnetes Dokumentardebüt über zwei Techno-DJs in Teheran („Raving Iran“, 2016), den Preis dieses Erfolgs beschreibt: Leonie muss ständig neue Videos produzieren, weil ihre Fans auf Schritt und Tritt über ihr Leben informiert sein wollen. Ein Online-Profi kritisiert, sie mache zu viel Theater: „Du musst authentischer werden!“ Also verbringt sie noch mehr Zeit damit, ihre Realität detailliert zu inszenieren. Oft sitzt sie bis tief in die Nacht am Schnitt. Dass sie immer gut drauf sein muss, wenn die Aufnahme läuft, versteht sich von selbst. Auf der anderen Seite hat sie ähnlich wie talentierte junge Tennisstars, deren Dasein gnadenlos auf den Sport ausgerichtet ist, nicht viel Zeit, ihre Jugend zu genießen. Umso erstaunlicher ist es, wie unzensiert der Film wirkt. Die Glamour-Seite kommt zwar nicht zu kurz, aber viele Szenen sind buchstäblich ungeschminkt. Dann ist Leonie ein ganz normaler bockiger Teenager mit Pickeln im Gesicht. Zwischendurch wirkt sie auch mal ziemlich einsam; umso respektabler, dass die Familie mit diesen sehr privaten Einblicken einverstanden war.
Nur gelegentlich verlässt der Film seine Protagonistin, die längst auch ihre eigene Modelinie hat, um bei Melanie in Oberbayern vorbeizuschauen. Das etwa gleichaltrige Mädchen ist mutmaßlich Leonies größter Fan und betreibt eine entsprechende Website. An Melanies Beispiel verdeutlicht die Autorin, wie es auf der anderen Seite des Smartphones aussieht: Sie verehrt die Influencerin wie eine Heilsbringerin. Als sie irgendwann aus unerfindlichen Gründen keinen Zugang mehr zu ihrem Instagram-Account hat, erleidet sie fast einen Nervenzusammenbruch; es fühle sich an, als sei ihre Existenz ausgelöscht.
Zwischendurch kommentieren Leonies Eltern aus dem Off, wie sich ihr Leben durch den Erfolg ihrer Tochter verändert hat. Da sich der Film ansonsten jedoch ausschließlich auf die beiden Protagonistinnen konzentriert, bleiben Deutungen und Bewertungen dem Publikum überlassen. Das gilt auch für die Veranstaltungen, bei denen Dutzende von Teenagern komplett aus dem Häuschen sind, wenn sie Leonie Aug’ in Aug’ gegenüberstehen dürfen. Natürlich dienen diese Ereignisse einzig und allein dem Zweck, den Verkauf anzukurbeln; die Beauty-Convention Glow zum Beispiel wird in Zusammenarbeit mit einer großen Drogeriekette organisiert.
Westdeutsche Frauen im Großelternalter werden sich angesichts der kreischenden Teenies womöglich an die Hysterie erinnern, als die Beatles in den Sechzigerjahren nach Deutschland kamen, Mütter an ihre Schwärmerei für die Boygroups der Neunziger. Ergründet wird dieses typische Teenagerphänomen nicht; vermutlich wäre die Frage, wann das alles angefangen hat und warum diese Form des Personenkults vor allem von Mädchen betrieben wird, ohnehin abendfüllend. Immerhin spart der Film die Schattenseiten nicht aus: Wer sich heutzutage in die Öffentlichkeit begibt, wird automatisch zur Zielscheibe. Wie Leonie mit den offenbar überwiegend von Jungs stammenden Hasskommentaren umgeht, erzählt der Film nicht.
Kinostart für „Girl Gang“ ist am 20. Oktober.