Reform, Standort, Investor – Sprache auf Abwegen

Victor Klemperer hat während der Hitlerjahre sorgfältig notiert, wie die „Lingua Tertii Imperii“, die Sprache des Dritten Reichs von den Propaganda-Profis erdacht, entwickelt und verbreitet wurde. Er hat auch überliefert, wie entscheidend für die Verbreitung die Medien waren und wie die LTI auf diesem Weg tief in die Umgangssprache der Deutschen eingedrungen ist.

Ein Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda hat die Bundesrepublik zwar nicht, aber mit dem Ende der Goebbels-Behörde 1945 war sprachregelndes Wirken der Macht in Deutschland keineswegs beendet. Im Gegenteil, das so erfolgreiche Beispiel findet bis heute eifrige Nachahmer, und sie brauchen kein staatliches Druckmittel mehr, um die Sprache der Medien zu beeinflussen: Die Massenmedien selbst sind längst Teil und Kumpane der Machtstruktur.

Eine der frühesten Sprachregelungen im Nachkriegsdeutschland war gleich eine der genialsten. Tabuisiert wurden die Begriffe Kapitalismus und Profit, da durch die Verfilzung des Kapitals mit dem Faschismus kompromittiert und 1947 sogar im Ahlener Programm der CDU verworfen; ersetzt wurden sie durch „Marktwirtschaft“ und „Gewinn“, jene an Wochenmarkt-Idyll und gewinnendes Lächeln erinnernden Werbe-Slogans. Versuche in den sechziger und siebziger Jahren, die alten Begriffe in journalistischen Texten wieder zu verwenden, wurden in konventionellen Medien gründlich wegredigiert, und inzwischen hat sogar in den USA „market economy“ den „capitalism“, dort noch lange ganz selbstverständlich und geradezu stolz so genannt, fast verdrängt.

Das Markenzeichen „Rechtsstaat“, frühzeitig für die Bundesrepublik eingeführt als Gegensatz zum vorangegangenen Unrechtsstaat, soll bedeuten, daß der gesellschaftliche Prozeß durch Recht und Gesetz geregelt sei. Heute werden u.a. brutale Abschiebepraktiken, etwa das Aussetzen von Kindern elternlos in ihnen fremden Ländern, mit dem Argument verteidigt, der Rechtsstaat verlange das – natürlich, wenn er dazu verkommt, unmenschliches Recht zu statuieren. Viele der Staatsverbrechen im Dritten Reich beruhten auf eigens dafür geschaffenem „Recht“, waren also im landläufigen Sinne rechtsstaatlich, und die vom Wiedervereinigungsrecht getroffenen Ostdeutschen wissen schon, was der Spruch „Wir erwarteten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ bedeutet. Aber immer weiter wird die Vokabel auch in den Medien als Sanctum benutzt.

Der Etikettenschwindel mit dem Begriff Reform hat ähnliche Bedeutung. Die ehrwürdige Vokabel, die für jedermann nichts anderes als Verbesserung bedeutet, wird nun schon seit Jahren jedem gesellschaftlichen Abbruch-Unternehmen aufgestempelt – Gesundheitsreform, Rentenreform, Sozialhilfereform, Reform des sozialen Wohnungsbaus, Steuerreform usw. Gewiß, der Sprachbetrug ging von der politischen Klasse aus, aber die Medien übernahmen ihn unisono, und darin liegt die wesentliche Erkenntnis. Daß Machteliten immer das ihnen Mögliche tun, ihre Aktionen – und seien sie noch so aberwitzig – positiv darzustellen, ist nicht neu, ist auch selbstverständlich. Daß ihnen dafür ein allumfassender Medienapparat, die hoch gelobte und verfassungsgeschützte „Vierte Gewalt“, als williger Vollstrecker zur Verfügung steht, sollte alles andere als selbstverständlich sein.

Es wimmelt von Beispielen solcher Verschleierungsdienste der Medien – etwa die Modebegriffe „Investor“ und „Standort“. Das Interesse, Kapital zu investieren, um damit Profit zu machen, ist nichts Neues, sondern seit je die Grundidee des Kapitalismus, auch seit je umstritten. Neu ist die – zugegeben brillante – Idee, den Profiteur als Investor zu verkleiden, also nur die erste Aktion, nicht aber Motiv und Ergebnis sichtbar zu machen und ihm so eine ganz neue Identität zu verpassen: Der Investor ist ein Wohltäter, eine Mischung aus Mäzen und Erlöser, zugleich auch ein modernes Heinzelmännchen, das seine segensreiche Tätigkeit sofort einstellt und verschwindet, wenn man es erschreckt.

Eng damit verbunden ist die Vokabel „Standort“. Auch sie beschreibt nichts Neues, denn Kapital hat für seine Anlage immer den Ort mit den günstigsten Bedingungen gesucht und auch immer Politik und Gesellschaft mit der Forderung unter Druck gesetzt, solche Bedingungen zu schaffen. Neu ist, daß durch die heute erreichte Verfügbarkeit des ganzen Globus für die Auswahl von Standorten die Erpreßbarkeit von Politik und Gesellschaft ins Unermeßliche gewachsen ist. Sie müssen bereit sein, sich möglichst zu denselben Bedingungen wie Konkurrenzorte in der Dritten Welt zu prostituieren, das und nichts anderes ist der Kern der Standort-Propaganda. Aber in den Medien wird der Begriff in der Version der Interessenten behandelt: Die Umweltschützer, der Sozialstaat, die Lohnnebenkosten, das Anspruchsdenken vertreiben die Investoren, weil sie den Standort Deutschland zu teuer machen.

Wo und von wem Sprachregelungen ausgedacht und in Umlauf gebracht werden, ist nicht immer auszumachen. Zu vermuten ist, daß in der Regel bright young heads in den PR-Regionen von Politik und Wirtschaft dahinterstecken, nicht zuletzt auch die anonymen Redenschreiber der Bosse. In vielen Fällen ist die Quelle PR eindeutig erkennbar, etwa bei Zeitungszeilen wie „Hypo-Bank geht neue Wege“ oder „Ein Neubeginn im alten Westinghouse-Konzern“ (wesentlicher Teil des Neubeginns: 1100 Entlassungen) oder „Kostenkiller mit Charisma“ (VW-Manager Lopez, von dem die Medien inzwischen schon wieder ganz andere PR-Porträts herumreichen).

Zu den besonders wichtigen und wirkungsvollen Sprachregelungen gehört es, politisch kontroverse Definitionen zu löschen und sie durch teils harmonisierende, teils bedeutungsschwangere Leerformeln zu ersetzen. Die marxistische Beschreibung der Klassengesellschaft war zu Zeiten des westdeutschen Wirtschaftswunders (auch dies ein eifrig verbreiteter PR-Slogan) noch relativ simpel in die gern und häufig erwähnte „Mottenkiste“ zu entsorgen und mit dem Schmuck-Adjektiv soziale Marktwirtschaft zu überstrahlen. Inzwischen, da die Klassengegensätze trotz oder wegen sozialer Marktwirtschaft längst wieder kraß hervortreten, sind raffiniertere Sprach-Umleitungen nötig geworden – und sie wurden geliefert. Eine stets dienstwillige Pseudo-Wissenschaft erfand eine Vielzahl von Gesellschaften – Informations-, Dienstleistungs-, Kommunikations-, Industrie-, Zivilgesellschaft usw., gern noch mit dem Zierwort „modern“ versehen. Die Worthülsen, in den Medien ständig lustvoll-gedankenlos benutzt, verdecken die moderne Klassengesellschaft, und auf die Sinnleere weist kaum jemand hin.

A propos Wirtschaftswunder – ihm zur Seite standen einstmals die Begriffe „steigender Reallohn“ und „Vollbeschäftigung“ als die Leistung und Legitimation, das historische Charakteristikum des Staats Bundesrepublik Deutschland. Politiker und Medien verklärten sie Tag für Tag im Chor, und „Wohlstand für Alle“ nannte Ludwig Erhard 1957 sein Buch. Inzwischen ist das Duo sinkender Reallohn und massive Arbeitslosigkeit zum Charakteristikum dieses Staats geworden, und die Glanzwörter von damals sind nicht nur – selbstverständlich – aus dem politischen Vokabular sondern auch aus der Mediensprache entsorgt worden, noch gründlicher als alle marxistischen Slogans.

Wichtig ist für die Sprachkontrolleure, daß es in den verschiedenen Gesellschaften ruhig bleibt, daß die von sozialer Schutzlosigkeit Gebeutelten nicht aufbegehren, sondern sich harmonisch ein- und unterordnen. Deshalb die Medienbegeisterung für den „Runden Tisch“, ein „Bündnis für Arbeit“, einen „Vertrag mit der Zukunft“, nicht zuletzt auch für – abenteuerliches Sprachmonstrum – „Streitkultur“. Diese erlaubt als letzte, äußerste Schärfe der verbalen Auseinandersetzung die Formel „wenig hilfreich“.

Solche Sprachregelung schafft aber nicht Frieden zwischen Hütten und Palästen, sondern erstickt Widerstand der Schwachen schon auf der Ebene der Sprache, indem sie das Verhaltensdogma aufstellt, alles sei durch harmonisches Miteinanderreden am runden Tisch, durch Bündnisse und Kompromisse zu aller Zufriedenheit zu regeln und dürfe deshalb nur so geregelt werden. Das vor langer Zeit schon einmal erreichte Wissen, daß „Kompromisse“ zwischen Macht und Ohnmacht in Wahrheit immer Siege der Macht sind, daß Schwache sich deshalb gegen die Macht stärken und wehren müssen, geht in der Streitkultur am runden Tisch einer Kommunikationsgesellschaft verloren.

Mehr noch: Wer sich wehrt, wird als realitätsfern und lächerlich verhöhnt. In einem eher liberalen Blatt wurde kürzlich den neuen Kennzeichnungsregeln der EU für genmanipulierte Lebensmittel zwar Wirkungslosigkeit bescheinigt: „(Es) muß sich zeigen, ob das Gesetz wenigstens das bescheidene Niveau an Verbraucherrechten hält, das es verspricht. Und hier ist Mißtrauen angebracht.“ Aber im selben Kommentar wird „Fundamentalopposition“ gegen solche Nicht-Regelung zum „hemmungslosen Lamento“ erklärt, das bestenfalls „ehrenwert“, aber eben „nicht mehrheitsfähig“ ist. Da haben wir ihn, den Zirkelschluß: Ein Mehrheitsvotum mag verhängnisvoll sein, aber konsequente Opposition dagegen ist sinnlos, weil nicht mehrheitsfähig. Getreu dieser Logik, die einmal eine Katastrophe in Deutschland verursacht hat, ist dem seit Jahren fortdauernden sozialen Kahlschlag der Bonner Koalition nie ein konsequentes Nein entgegengesetzt worden, sondern allenfalls ein „Wenig Hilfreich“, und am Ende wurde er immer wieder für gerechtfertigt erklärt.

Hier stößt man auf das Fundament der Sprachregelung, den Trick, höchst dubiose Behauptungen in Naturgesetze zu verwandeln. Daß „wir über unsere Verhältnisse leben“, daß „Sparen, Sparen, Sparen“ die alles beherrschende eherne Norm ist, daß „Globalisierung“ so unausweichlich wie ein Naturereignis über uns gekommen ist – solche und ähnliche Sprechblasen sind heute zu Axiomen erhoben worden. Sie stehen, da ein Axiom laut Duden ein „unmittelbar einleuchtender Grundsatz“ ist, jenseits von Zweifel und Kritik, werden im öffentlichen Dialog und natürlich auch in den Medien tagtäglich als Selbstverständlichkeiten vorgebetet, woraus sich dann soziale Demontage als logisch zwingende Folge ergibt.

Daß Sprachmanipulation tief wirkendes politisches Fehldenken hervorbringen kann und man deshalb gegen sie Widerstand leisten muß – die Deutschen haben es trotz der NS-Erfahrung offenbar nicht gelernt, auch die meisten deutschen Journalisten nicht. Gewiß, die letztlich sprachregelnde Instanz sind die Medien-Hierarchen, aber Journalisten sind die Erstproduzenten der Mediensprache, bei ihnen liegt deshalb die Erstverantwortung für die Abwehr von Manipulation. Daß die meisten sie statt dessen ohne jeden Zwang akzeptieren und weiterreichen, erschreckt.

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