Barrieren im Alltag

Behinderte Menschen – nur selten ein Thema für die Medien

Für Menschen mit Behinderungen gibt es nach wie vor unzählige Barrieren im Alltag, die es ihnen nicht ermöglichen am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilzuhaben. Auch am diesjährigen 5. Mai werden deshalb europaweit Aktionen stattfinden, um darauf aufmerksam zu machen, dass schätzungsweise 40 Millionen Menschen postulierte Menschenrechte vorenthalten werden. Seit 1992 wird der Europatag – an diesem Tag wurde 1949 der Europarat gegründet – für diese Demonstrationen genutzt. Für die Mehrzahl der Medien ist dies dennoch kaum ein Thema.

Muss sich denn ein gelähmter Mann im Rollstuhl mit einem 50-Tonnen-Kran von außen an das Fenster der Beratungsstelle des Rathauses hieven lassen, damit die Tagesschau und die Heute-Sendung darüber berichten, wie schwierig es für ihn ist seine Stadtverwaltung auf gewöhnlichem Weg zu erreichen? So geschehen am 5. Mai 1998 in Berlin-Lichtenberg vor den in- und ausländischen Fernsehkameras. Eine Behinderung kann noch so schwer sein – die Leistungen der Betroffenen, damit fertig zu werden, sind für die Medien erst ein Thema, wenn sie als «außergewöhnlich» angesehen werden. Trotz ihrer Höchstleistungen im Sport litten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Paralympics lange Zeit unter der Ignoranz der Medien. Noch 1988 sendete das ZDF insgesamt nur einen 30 Minuten langen Beitrag über die Wettkämpfe in Seoul. Dieser kam nicht in der Sportsendung, sondern – und das ist bezeichnend – im Gesundheitsmagazin «Praxis». Daran hat sich zum Glück heute viel geändert. Rundfunk und Fernsehen berichten zwar nicht annähernd im selben Umfang wie über die olympischen Spiele, aber im Vergleich zu früheren Zeiten kann man damit zufrieden sein. Aber außerhalb der Paralympics nehmen Presse, Funk und Fernsehen leider nicht oder nur sehr selten die Landes- Europa- und Weltmeisterschaften der Sportlerinnen und Sportler mit Behinderungen wahr.

Eine löbliche Ausnahme

Die löbliche Ausnahme macht das Deutschlandradio Kultur: Seinem Markenzeichen als Qualitäts-Sender entsprechend, berücksichtigt es auch sonst bei Meldungen, Berichten, Reportagen und Interviews in allen Programmsparten die Anliegen behinderter Menschen.

Die Handlungen der Politik, Behörden und Wirtschaft, die diesen Menschen statt Hindernisse aus dem Weg zu räumen, das Leben oft erheblich erschweren, finden bei den überregionalen Tageszeitungen meist nur im Lokalteil, in den Wochenzeitungen, Hauptnachrichten und politischen Magazinen der ARD und des ZDF noch seltener einen kritischen Widerhall. Von den privaten Rundfunk- und Fernseh-Sendern ganz zu schweigen.

Als sich Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) in Interviews mit der Abschaffung des seit 1963 blinden Menschen gewährten Landesblindengeldes brüstete, fragten ihn die Journalistinnen und Journalisten nicht, wie die Betroffenen künftig die Kosten der nötigen Begleitperson, Taxifahrten, Hilfen bei Reparaturen, im Haushalt usw. aufbringen sollen. Sie boten ihm eine Plattform, solche Einschnitte als den Versuch auszugeben, die Eiger Nordwand hochzuklettern. Seine Sozialministerin Ursula von der Leyen, die die Kürzungen initiierte und betrieb, hätten sie fragen können: wieso sie einkommens- und vermögensunabhängige Zahlungen für Blinde, die auf Hilfe angewiesen sind, ablehne, aber selber als gut betuchte Ärztin und nicht schlecht verdienende Politikerin 1.500 Euro Kindergeld im Monat annehme? Statt dessen stilisierten die Medien die Ministerin zum «Shooting Star der CDU-Sozialpolitik». Die Hinweise der Behindertenverbände auf solche Widersprüche wiesen die Nachrichtenmagazine als belanglos ab. Und dies obwohl Christian Wulff, Ursula von der Leyen und Finanzminister Hartmut Möllring die anderen Bundesländer zum gleichen Tun aufforderten.

Leistungen kaum gewürdigt

Dass Medien durchaus zur Lösung der Probleme von Menschen mit Behinderungen beitragen können, haben wenige engagierte Journalistinnen und Journalisten bewiesen. In Berichten und Reportagen zeigten sie auf, dass das Bildungsniveau der gehörlosen Frauen und Männer in den USA um ein Vielfaches höher ist als in der Bundesrepublik. Der Grund: dort lernen sie von Kindesbeinen an neben der Lautsprache auch die Gebärdensprache, die sie als ihre «Muttersprache» viel leichter verinnerlichen können. In dieser Sprache, die sie nicht mühsam von den Lippen ablesen müssen, kann man ihnen selbst die kompliziertesten wissenschaftlichen Zusammenhänge rasch vermitteln. Mit ihren Berichten verschafften sie der Forderung der gehörlosen Menschen nach amtlicher Anerkennung der Gebärdensprache «Gehör» in der Politik! Seit 2002 gilt sie, die von Nationalsozialisten und den konservativen Lehrkräften als «Affensprache» diskriminiert wurde, auch hierzulande als offizielles Kommunikationsmittel.

Wie sagte doch Rosi Mittermaier-Neureuther bei der Wahl der Behindertensportlerin und -Sportler des Jahres in Düsseldorf: «Es ist schlimm, dass bei uns das private Fernsehen mit der Übertragung von Dschungel-Shows das Bildungsniveau senkt, anstatt über die beispielhaften Leistungen der Menschen mit Behinderungen in Sport, Beruf und Gesellschaft zu berichten.» Dennoch würdigten von den überregionalen Zeitungen nur die Frankfurter Rundschau mit einem eigenen ausführlichen Bericht und die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit einer Vier-Zeilen-Meldung die Wahl der Schwimmerin Kirsten Bruhns aus Neumünster und des Wattenscheider Leichtathleten Wojtek Czyz. Und dies obwohl die dpa in ihrem Basisdienst mehrere Meldungen und Berichte von dem Ereignis verbreitete.

 

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