Billige Reporter

Der Stern gründet eine Bild-Agentur für Hobby-Fotografen, Bild stellt Presseausweise für „Leser-Reporter“ aus, die Readers Edition sucht „20 Millionen Redakteure“. Schlagwörter wie „Bürgerjournalismus“ und „partizipativer“ Journalismus machen die Runde. Ist der gut ausgebildete, professionelle Journalist ein Auslaufmodell?

„Pressefreiheit“, so spitzte der Publizist Paul Sethe 1965 im Spiegel zu, „ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten“. Lang ist’s her. 40 Jahre nach Sethes Kritik an der kapitalistisch verfassten Medienordnung nutzen immer mehr Menschen neue Medienkanäle, um ihre Urteile, Meinungen, Beobachtungen oder Bilder zu publizieren. Bürgerjournalismus lautet das Schlagwort für ein Phänomen, hinter dem Kommunikationswissenschaftler die Genese eines völlig neuen Öffentlichkeitsbegriffs wittern.
Immer mehr Sender und Printmedien setzen Zuschauer und Leser als Reporter ein. Vor allem in Krisensituationen kommen Laienreporter bei etablierten Medien zum Zuge. Bei der Tsunami-Katastrophe in Südostasien, den letztjährigen Terroranschlägen in London oder beim Hurrikan „Katrina“ in den USA griff CNN in der Berichterstattung verstärkt auf Amateuraufnahmen zurück. Grund: Gegen die Aktualität spontaner Handy-Shots waren die eigens entsendeten hauseigenen Teams chancenlos. Private Filmaufnahmen und Informationen von Betroffenen seien eine „willkommen Ergänzung“ der eigenen Arbeit, sagte Nick Wrenn, Chefredakteur von CNN International, bereits vor einem Jahr auf einem Berliner Medienkongress. Auch so genannte private Weblogs, so Wrenn, seien „eine Bereicherung, keine Bedrohung für CNN“. Mittlerweile wirbt der US-Nachrichtenkanal auf seiner Website um Beiträge seiner Zuschauer. Über „CNN-Exchange“ können registrierte Nutzer ihre Videos und Fotos in ein Redaktionssystem einspeisen. Diese werden bei CNN geprüft, als I-Report“ gekennzeichnet im Internet veröffentlicht oder sogar übers Fernsehen verbreitet. Ein Beispiel, das auch in Deutschland zunehmend Schule macht. N 24, Nachrichtenkanal der ProSieben.Sat1 Media AG wirbt seit rund einem Jahr mit Trailern im laufenden Programm um Bildmaterial. Wie sein US-amerikanisches Vorbild zahlt der Sender für gelieferte Aufnahmen kein Geld. Anders dagegen RTL. Die aktuellen Redaktionen des Kölner Privatsenders locken potentielle Zuschauer-Reporter mit differenzierten Honoraren: 100 Euro für jedes gesendete Foto, 500 Euro für Videos.
Bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten überwiegt dagegen die Skepsis. ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender hält die Mitmach-Aufrufe der Privatsender für „journalistisch unverantwortlich“. Keine Redaktion sei in der Lage, die Glaubwürdigkeit von Amateuraufnahmen korrekt einzuschätzen.

Vision vom mündigen Bürger

Bürgermedien? So mancher Altlinke dürfte bei diesem Begriff mit gemischten Gefühlen an das Konzept einer „Gegenöffentlichkeit“ denken, an die Debatte über das Für und Wider der Offenen Kanäle (OK), die Anfang der 80er Jahre die medienpolitische Debatte prägte. Damals – zu Beginn der Privatfunkära – ging es darum, zusätzlich zum dualen Rundfunksystem als „dritte Säule“ auch Elemente eines nichtkommerziellen Rundfunks zu etablieren. Dahinter steckte die idealistische Vision vom medienkompetenten, mündigen Bürger, der selbstbewusst sein Grundrecht auf Meinungsfreiheit wahrnimmt – jenseits der etablierten Rundfunk-Medien. Kritiker disqualifizierten den OK freilich als medienpolitisches Feigenblatt, als Beruhigungspille zwecks Versüßung der zeitgleich galoppierenden Kommerzialisierung des Rundfunks. Eine nicht ganz unzutreffende Bewertung, angesichts des Nischendaseins, das der damals in einigen Ländern durchgesetzte OK gegenwärtig führt.
„Interaktivität“ war das nächste Schlagwort, mit dem Anfang der 90er Jahre die etablierten Medien um ihr Publikum warben. Was seinerzeit mit eher rustikalem Mitmach-Instrumentarium wie etwa der TED-Abstimmung für Furore sorgte, gehört im Zeitalter des Internet längst zum Medienalltag vieler Bürger. Die Mehrheit der großen Print- und Funkmedien verfügt über Webseiten mit Chat-Räumen oder Foren, die den Nutzern erlauben, ihre Meinung zu äußern oder schlicht ihr Mütchen zu kühlen.
„Werden Sie selbst Redakteur!“ lautet zum Beispiel der Animationsslogan der „Readers Edition“, einem im Juni gestarteten Projekt der Netzeitung. „Jeder kann zum Journalisten werden, der Platz ist unbegrenzt“, wirbt die Plattform für „eine völlig neue Art des Journalismus“. Kühne Einstiegshilfe für den Nachwuchs, Sprungbrett für Talente oder bloß ein weiterer Flügelschlag im großen Grundrauschen des World Wide Web? Einstweilen erscheint das publizistische Angebot wie eine Volksausgabe der Netzeitung, aufgefächert in die üblichen Rubriken wie Politik, Lokales, Sport und – nun ja – Web & Technik. Dazu Listen „bester Autoren“, „meistgelesener Artikel“ und „Artikel der Woche“. Immerhin: Vollends über den Haufen geworfen wird die bisherige „Gatekeeper-Funktion“ bei Readers Edition nicht. „Ehrenamtliche Moderatoren“ überwachen die Einhaltung des Pressekodex. „Die Fakten müssen stimmen, unbestätigte Gerüchte oder Vermutungen werden nicht veröffentlicht“, heißt es in der Selbstdarstellung. Wie die Qualitätskontrolle funktioniert, verrät ein Klick auf den Link „Problemartikel“. Da wird schon mal recht ungnädig „mangelnde Qualität“ attestiert oder schlicht auf „PR“ oder „Empfehlung der eigenen Website“ entschieden. Ein Honorar erhalten übrigens auch die „Redakteure“ der Readers Edition nicht, und zwar, weil diese „für Leser und Autoren kostenlos ist und die Netzeitung durch Sponsorenverträge derzeit die Server- und Personalkosten trägt“.
Während es noch zu früh erscheint, das Phänomen Readers Edition abschließend zu bewerten, fällt dies bei anderen Blüten des „bürgerjournalistischen“ Angebotes schon leichter. Etwa beim „Leserreporter“-Service der „Saarbrücker Zeitung“ aus dem Hause Holtzbrinck. Per Anzeige im eigenen Blatt werden die SZ-Leser – ähnlich wie bei N 24 – seit Anfang des Jahres aufgerufen, Tipps und Fotos per SMS, MMS oder per E-Mail an die Redaktion zu schicken. Vorbild ist das System des norwegischen Boulevardblatts „Verdens Gang“, auf dessen Software „VG Tips Portal“ die SZ zurückgreift (M 07–08.2006). Die Leser schreiben nicht selbst, sie liefern nur – honorarfrei – das Rohmaterial, das von der Redaktion journalistisch bearbeitet wird. Dennoch wird dieses „innovative“ Treiben von den Profikollegen argwöhnisch beäugt. Hier werde der Abonnent als „billiger Reporter“ rekrutiert, beschwerten sich Gewerkschafter. „Versuche, Stellenabbau und Tarifverweigerung mit dem Mäntelchen der Bürgerbeteiligung und der Meinungsdemokratie zu verschleiern, sind durchsichtig und ärgerlich – da gucken unten die nackten Füße raus“ so Ulrike Maercks-Franzen, Bundesgeschäftsführerin der dju in ver.di. „Wer – egal in welchem Medium – RedakteurInnen einspart oder mit zu vielen zusätzlichen technischen und organisatorischen Aufgaben belastet, muss für den Inhalt auf andere Lieferanten ausweichen – das kann nicht die Definition von Qualitätsjournalismus sein“. (Siehe auch http: //dju.verdi.de ).
Mittlerweile hat auch der Konstanzer Südkurier (ebenfalls Holtzbrinck) das System eingeführt. Den Verzicht auf Honorierung der „Leser-Reporter“ begründet SZ-Chefredakteur Peter Stefan Herbst mit einer fürsorglichen Haltung. Man wolle die Leser „nicht animieren, sich für interessante Meldungen oder Fotos in Gefahr zu begeben“. Wie umsichtig.

Aufwind für Hobby-Paparazzi

Da ist die Bild-Zeitung weniger zimperlich. Sie setzt seit Juli eine Prämie von 500 Euro für verwertbare Schnappschüsse ihrer Leser aus. Diese wissen, was der Auftraggeber wünscht: Katastrophen- oder Unfallmotive sowie Promi-Fotos. In der Praxis läuft das auf eine Einladung für potentielle Möchtegern-Paparazzis heraus. Seit dem Bild-Aufruf sei man permanent von Mobiltelefonen umzingelt, stöhnen etwa die Mitglieder der Teenie-Band „Tokio Hotel“. Unter den jüngsten Opfern: Kerner beim Joggen auf Sylt, Zinedine Zidane beim familiären Freitzeitrudern, Bohlen „mit zwei weiblichen Fans“ am Strand von Mallorca. Letztere, so fand indes Bildblog.de heraus, waren keineswegs Zufallsbekanntschaften, sondern bereits Wochen zuvor als Teilnehmerinnen am Casting für die RTL-Show „Deutschland sucht den Superstar“ bei einem Bild-Shooting aufgenommen worden … Ende August folgte der „Stern“ dem Bild-Beispiel: zusammen mit „Picture Press“ gründete man „augenzeuge.de“, die „Online-Bildagentur für Amateurfotografen“. Als prophylaktische Beruhigungspille versprach „stern.de“-Chefredakteur Frank Thomsen, „Hobby-Paparazzi … keine Chance“ zu geben. Mal sehen …
Die Blogger verkörpern eine weitere Spielart von Bürgerjournalismus auf Basis des Internet. Bildblog wird betrieben von einem Netz professioneller Journalisten, die das Internet zu systematischer Medienkritik nutzen. Dass den Bild-Machern diese Art öffentlicher Kontrolle nicht sonderlich schmeckt, verwundert kaum. Aber auch anderen Kollegen ist das Treiben vieler Blogger suspekt. Dahinter steckt nicht nur das Unbehagen über den Verlust des eigenen Vermittlungsmonopols. Es gebe für Journalisten durchaus zahlreiche Gründe, Blogger als „Konkurrenten, Kritiker oder sogar als die Kopfjäger des Internet“ einzuschätzen, heißt es in einer kürzlich erschienenen Studie über das Verhältnis von Weblogs und Journalismus. Demnach halten sich die wenigsten Blogger für Journalisten oder fühlen sich journalistischen Qualitätsstandards verpflichtet. Dennoch warnt der Autor Matthias Armborst davor, Blogger aufgrund laienhafter Beiträge oder demonstrativer Subjektivität zu disqualifizieren: „Bloggern sollte zuerkannt werden, dass sie aufgrund ihrer hohen Internet-Kompetenz und ihrer hochgradigen Vernetzung oftmals besser als Journalisten in der Lage sind, Internet-Informationen zu filtern, aufzubereiten und in Bezug zu setzen.“ Auch der Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger sieht den Laienjournalismus nicht als Konkurrenz, sondern als „Ergänzung zum professionellen Journalismus“ (Vgl. Interview).
Zumindest einem Teil der Bürgerjournalismus-Promotoren, so viel scheint klar, geht es vor allem um das darin vermutete Sparpotential. „Warum teures Geld für professionelle Journalisten ausgeben“, so Christoph Bieber unlängst im Internetmagazin „Telepolis“, „wenn doch der nutzergenerierte Inhalt vergleichsweise kostengünstig akquiriert werden kann“? Die Mediengewerkschaften haben allen Grund, diese unter dem Mäntelchen der „Bürgernähe“ daher kommenden Angriffe auf das journalistische Berufsethos und tarifliche Besitzstände zurückzuweisen.

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