Täglich ein Marathon?

Länger arbeiten – härter arbeiten: Zeitschriftenverleger verlangen jetzt, was auch andere Branchen ihren Beschäftigten abfordern: Länger arbeiten ohne Lohnausgleich. Dagegen vertrauen Zeitungsverleger weiterhin darauf, dass Redakteure auch ohne Anweisung länger arbeiten, als sie müssten. Wie lange noch?

Er versucht es schon nicht mehr. „21 Uhr ist für die meisten Leute zu spät, um sich noch zu verabreden.“ Die wollen ins Bett, er hat gerade Feierabend. Ein Feierabend, der nicht ins Leben passt. Zu spät fürs Kino, zu spät fürs Theater, zu spät für den Sportverein. „Das macht mich sauer“, sagt der Redakteur einer überregionalen Zeitung. Diese Woche war wie jede andere: 45 Stunden lang. Selten sind es weniger, aber immer mehr, als im Tarifvertrag stehen.

„Wenn ich zu viel und zu lange arbeite, weiß ich abends nicht mehr, mit wem ich heute telefoniert, was ich gestern geschrieben habe und auf welchem Termin ich vorgestern gewesen bin“, sagt eine Redakteurin. Was ist viel? Sie zuckt mit den Achseln. „So um die 50 Stunden, schätze ich.“

In Redaktionen wird viel geschätzt. Nur wenige Redakteure schreiben ihre Arbeitszeit auf. Noch weniger erhalten für ihre Überstunden einen Freizeitausgleich. „Was nützt es aufzuschreiben? Ich weiß ohnehin, dass ich zu lange arbeite.“ Oder: „Wenn ich meine Arbeitszeit notiere, bin ich ja noch länger in dem Laden.“ Oder: „Keine Ahnung, was im Tarifvertrag steht. Wahrscheinlich lieg‘ ich drüber.“

Ausnahme in Mittelfranken

Klingt, als wäre es Redakteuren egal, wie lange sie arbeiten und wie viel Zeit sie dem Verlag schenken. Doch so ist es nicht. Redakteure halten sorgfältig fest, wie viel Freizeit ihnen für Wochenenddienste zusteht. Die freien Tage wollen sie kurzfristig oder en bloc nehmen. Auch wenn sie Arbeitszeit individuell verkürzt haben, lassen sie ihre freien Tage nicht verfallen.

„Ein erstaunliches Phänomen“, sagt Thomas Haipeter vom Institut für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen, der die Arbeitszeiten in Zeitungsverlagen untersuchte. (M 02 / 2005) Bei der Freien-Tage-Regelung scheinen sich Redakteure sicher zu sein: Das ist mein Recht, das steht mir zu. Gegen die Entgrenzung der täglichen Arbeitszeit fühlen sie sich jedoch offensichtlich machtlos. Dabei gibt es genügend Beispiele, wie variable Arbeitszeiten geregelt werden können, beispielsweise über Langzeitkonten. Voraussetzung dafür ist, die tägliche Arbeitszeit zu notieren und den Gegenwert einzufordern.

Beispiel Nürnberger Nachrichten (NN): Seit Jahren gibt es die Monatsbögen, auf denen Redakteure ihre Überstunden eintragen, wenn auch nicht jede einzelne. Die Zeit wird abgefeiert, seltener ausbezahlt. NN-Redakteure sind nicht mutiger als anderswo. Sie profitieren davon, dass Zeiterfassung im Hause Schnell üblich ist. Erst in der letzten Tarifrunde hat Bruno Schnell in einem Kommentar seinen Verlegerkollegen die Leviten gelesen.

Die mittelfränkische Regionalzeitung ist bundesweit eine Ausnahme. Im Schnitt arbeiten Redakteure 43 Stunden, also 6,5 Stunden pro Woche mehr als im Tarifvertrag steht. Gratis.

Damit unterscheiden sich Redakteure nicht von anderen Hochqualifizierten. Je höher die Qualifikation, desto länger die Arbeitszeit. Je höher die Identifikation mit dem Job, desto weniger schaut einer auf die Uhr. „Wenn ich mich in eine Geschichte verbissen habe, packt mich das Fieber, ich habe regelrecht Hochgefühle und bin erst zufrieden, wenn ich den letzten Punkt gesetzt habe“, sagt eine Redakteurin. Egal, wie spät es ist. „Aber dafür brauche ich einen Ausgleich.“ Wer rennt schon täglich Marathon.

„Ich bin bereit, auf Freizeit zu verzichten“, sagt ein Wirtschaftsredakteur, der 45 Stunden arbeitet. Schätzungsweise. „Es ist doch fair: Der Job hat eine hohe Anerkennung, ich verdiene gut und habe meine Freiheiten.“ Soll heißen: Meine Vorgesetzten kontrollieren mich nicht, im Gegenzug verlange ich für die Überstunden keinen Ausgleich. Das ist der Deal. Einstechen, ausstechen, das passt nicht zu unserem Beruf, sagt einer. Zeiterfassung wäre das Ende des guten Journalismus.

Also alles halb so schlimm? Freiwillig länger arbeiten für Freiheit und Zufriedenheit? Nicht ganz. Seit nicht mehr alle Stellen besetzt sind, müsse jeder eben mehr tun. Der Beruf habe an Attraktivität eingebüßt. „Wir gehen seltener raus, nehmen Agenturmeldungen mit, ohne zu hinterfragen, redigieren ein bisschen, weg damit.“ Sich an die 36,5 Stunden-Woche zu halten, hieße, nur noch von Termin zu Termin zu eilen. „Ich will aber keine Zeitung machen, die an den Menschen am Ort vorbeigeht.“ Und: „Wenn ich noch halbwegs zufrieden sein will mit dem Blatt, muss ich eben Zeit investieren.“

Die Arbeit in den Redaktionen hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend geändert. Teile der technischen Herstellung sind aus der Vorstufe in die Redaktion verlagert worden. Und noch weitere Aufgaben werden Redakteuren zugeschaufelt: Sie verfassen Texte für Anzeigenkunden, fotografieren, lesen Korrektur und archivieren, organisieren Leseraktionen, bereiten Leserreisen vor, schreiben über Verlosungen, die der Verlag initiiert hat, und suchen im Internet nach kostenlosen Fotos und Illustrationen. Selbst den aktuellen Markt sollen sie im Blick haben. Redakteure wissen nicht nur, wie viel die Herstellung ihrer Lokalausgabe kostet, sie kennen auch die Kosten der anderen Lokalausgaben im Haus. Das Ziel ist klar: Im Durchschnitt bleiben, besser noch darunter liegen.

Menschen funktionieren nicht wie Maschinen

Die zusätzlichen Aufgaben kosten Zeit, die für journalistische Arbeit fehlt. Was kommt zu kurz? Recherche, sagen Redakteure einmütig. Darüber hinaus muss die Arbeit Anderer miterledigt werden, weil seit der Anzeigenkrise Kollegen gekündigt oder frei gewordene Stellen nicht wiederbesetzt wurden. Um trotz der zusätzlichen Tätigkeiten mit weniger Personal Qualität zu halten, arbeiten Redakteure intensiver und länger.

Lange Arbeitszeiten sind auf Dauer jedoch wenig geeignet, um Qualität zu steigern. Je länger jemand arbeitet, sagt Professor Dr. Friedheim Nachreiner, Professor für angewandte Psychologie an der Universität Oldenburg, desto größer die Ermüdung, desto unkonzentrierter und unaufmerksamer wird die Arbeit erledigt. Fehler nehmen zu. Menschen funktionieren eben nicht wie Maschinen: Je länger die Laufzeit, desto größer der Ausstoß. Beim Menschen nehme die Produktivität mit längeren Arbeitszeiten ab. Wer auf Dauer immer lange arbeitet, ist weniger produktiv als jemand, der ausreichend Zeit hat, um sich zu regenerieren. Lange Arbeitszeiten machen darum auch ökonomisch wenig Sinn. Der Arbeitgeber bekommt für dasselbe Geld weniger Leistung.

Die Geschäftsleitung der „Financial Times“ kann solchen Erkenntnissen wenig abgewinnen. Sie hat den Betriebsrat darüber informiert, dass sie folgende Regelung in die Arbeitsverträgen schreiben will: Die Arbeitszeit soll sich nach betrieblichen Erfordernissen richten. Weil die „Financial Times“ nicht tarifgebunden ist, gilt für die Beschäftigten auch nicht die 36,5 Stunden-Woche. Eine Grenze bietet allein das Arbeitszeitgesetz. Das sieht an sechs Tagen bis zu 48 Stunden vor. Maßloses Arbeiten will der Betriebsrat jedoch verhindern. „Wir wollen die Arbeitszeiten in geregelte Bahnen lenken“, sagt Gesamtbetriebsratsvorsitzender Martin Virtel. Er setzt auf das Modell der „Financial Times“-Redakteure in Berlin. Arbeitszeit, die über 40 Stunden hinausgeht, wird in Absprache mit den Kollegen in Freizeit ausgeglichen. Was viele befürchten, aber kaum einer laut sagt: Wie soll ich in diesem Tempo, mit dieser Intensität noch weitere zehn Jahre arbeiten?

„Es wird eine Renaissance der Arbeitszeitdebatte geben“, ist Malte Hinz überzeugt. Besonders Redaktionen, die personell arg ausgedünnt sind, stellen fest, dass es schwierig ist, ein gutes Blatt zu machen, selbst wenn noch länger gearbeitet wird. „Wer über Qualität redet oder über die Mindestbesetzung einer Redaktion, landet zwangsläufig beim Thema Arbeitszeit“, so der Betriebsratsvorsitzende der „Westfalischen Rundschau“ und dju-Sprecher.

In einigen Zeitungsredaktionen gibt es bereits wieder Debatten um Arbeitszeit. Der Betriebsrat der „Neuen Presse Hannover“ will ebenso eine Zeiterfassung durchsetzen wie der Betriebsrat der „Ostseezeitung“ in Rostock (s. Seite 13).

Während Zeitungsverleger darauf vertrauen, dass ihre Redakteure mehr arbeiten als im Tarifvertrag steht, segeln Zeitschriftenverlage im Windschatten von Siemens: 40 Stunden und mehr. Nachdem Burda im Dezember den Verlag Milchstraße kaufte, ist nicht nur jeder dritte Arbeitsplatz gekappt worden. Für die rund 200 Redakteure und Angestellten der Zeitschriften „TV Spielfilm“, „Cinema“, „Max“, „Fit for fun“ und „My Life“ droht der Tarifvertrag zur Makulatur zu werden. Der Burda-Konzern, neuerdings Marktführer beim Zeitschriftenverkauf, will für die Milchstraße-Beschäftigten die 40-Stunden-Woche. Der Betriebsrat hat abgelehnt.

46 Stunden pro Woche

Was Burda in Hamburg noch plant, ist bei Bauer bereits umgesetzt. Für Neueingestellte gibt es in den Redaktionen des Programmzeitschriftenverlages („TV Movie“, „Fernsehwoche“, „TV Hören und Sehen“) nur noch Verträge mit einer Arbeitszeit von 40 Stunden. Mehr noch: Wer unterschreibt, verpflichtet sich 15 Prozent Mehrarbeit ohne Ausgleich zu leisten. Macht 46 Stunden pro Woche. Wer auf seiner ursprünglichen Arbeitszeit besteht, dem wird das Gehalt anteilig gekürzt. Widerstand gibt es nicht. Im Gegenteil: Der Betriebsrat ist mit seinem Versuch, die Arbeitszeit in einer Betriebsvereinbarung zu regeln, am Veto der Belegschaft gescheitert. „Eine bittere Erfahrung für uns“, sagt Gesamtbetriebsratsvorsitzende Kersten Artus. Offensichtlich hat nicht nur die Drohung der Geschäftsleitung gewirkt, bei Widerstand gegen längere Arbeitszeiten Leistungskontrollen durchzuführen, sondern auch die Angst, den Job zu verlieren. Auflage, Reichweite, Vertrieb seien inzwischen Alltagsthemen unter Redakteuren, so Artus.

Ein Teufelskreis

Auf dem Markt der Fernsehzeitschriften ist es eng geworden. Die Wettbewerbsvorteile, die sich Bauer durch die neuen Verträge verschaffe, führten jedoch lediglich dazu, dass andere Verlage nachziehen. Ein Teufelskreis, sagt Artus. „Wir müssen zur 35- beziehungsweise 36-Stunden-Woche zurückkehren.“ Und damit einen Tarifvertrag einführen, den es bislang für die Beschäftigten beim Heinrich Bauer Programmzeitschriftenverlag nicht gibt.

Wohl aber für Redakteure an Tageszeitungen. Wer 45 Stunden arbeitet, kann doch nichts dagegen haben, dass 45 Stunden im Tarifvertrag stehen? Nein, so sei das nicht gemeint, sagt ein Wirtschaftsredakteur. „Ich wäre dagegen, wenn Verleger ein Anrecht darauf hätten.“

 

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