„Der Kram stimmt alle nicht“

Warum der „Spiegel“-Reporter Bruno Schrep die Geschichte vom angeblichen Bademord am kleinen Joseph in Sebnitz nicht geschrieben hat – und dann einen Medien-GAU erleben musste

Das daumendicke Aktenmaterial bekam „Spiegel“-Reporter Bruno Schrep frei Haus auf seinen Hamburger Schreibtisch geliefert, der Absender war eine allererste Adresse für Seriosität: Christian Pfeiffer, Hannoveraner Kriminalistik-Professor und damals bereits designierter niedersächsischer Justizminister.

Auf den ersten Blick witterte der 55-jährige „Spiegel“-Mann einen großen Scoop, der ihm da unverhofft ins Haus geschneit war. „Ich hab“ einen tollen Fall“, alarmierte er seinen Ressortleiter. Doch je mehr sich Schrep in die Akten vertiefte, desto mulmiger wurde ihm bei der Lektüre. Schließlich zog er die Reißleine: „Nein, nein, nein“, beharrte der misstrauische Reporter, „das können wir nicht machen!“

Was Schrep nicht ins Blatt heben möchte, machte „Bild“ zwei Monate später zum großkalibrigen Aufmacher: „Neo-Nazis ertränken Kind – Am helllichten Tag im Schwimmbad. Keiner half. Und eine ganze Stadt hat es totgeschwiegen.“ Die Story war der Auslöser für einen beispiellosen Medien-GAU, einen „kollektiven Irrtum“ („Die Welt“), dem die links-alternative „taz“ („Badeunfall erweist sich als rassistischer Mord“) ebenso erlegen ist wie die oft gelobten Blattmacher der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ). Die schlagzeilte ihre Verdachtsberichterstattung mit der bildreichen Tatsachenbehauptung: „Ein Kind ertränkt wie eine Katze“.

„Da hab ich an meinem Verstand gezweifelt“

Spätestens nach der Verhaftung der drei Jugendlichen aus dem sächsischen Sebnitz, die im Verdacht standen, den sechsjährigen Joseph, Sohn der örtlichen Apotheker-Familie Kantelberg-Abdulla, ertränkt zu haben, hatte „Spiegel“-Reporter Schrep ein paar aufregende Tage zu überstehen. „Da hab ich an meinem Verstand gezweifelt“, gesteht der erfahrene Rechercheur. Immer wieder fragte er sich: „Solltest du so“nen Blackout gehabt haben?“

Doch je mehr sich Schrep in das Aktenmaterial zum „Fall Joseph“ vertiefte, desto sicherer wurde er seiner Sache. Seine Kollegen in der Berliner Redaktion, die sich nach der „Bild“-Enthüllung des Falles angenommen hatten, warnte er eindringlich: „Leute, Vorsicht, Vorsicht! Der Kram stimmt alle nicht“. Misstrauisch gemacht hatte Schrep in dem Aktenkonvolut vor allem ein 14-seitiges Schreiben, das die Eltern des kleinen Joseph an ihre Anwälte gerichtet hatten. Als Anlass für den Mord an ihrem Sohn wurde dort die Entlassung einer ihrer Apothekenhelferinnen genannt. Zudem war die Rede von einer Reihe weiterer Morde („fingierte Verkehrsunfälle“) im Umfeld von Sebnitz und einem „Spitzelsystem“, mit dem das Rechner-System in der Apotheke der Familie Kantelberg-Abdulla lahmgelegt werden sollte. „Die pure Paranoia“, befand „Spiegel“-Mann Schrep.

„Eine dieser irren Geschichten“

Der fühlte sich in seinem Urteil nach Recherchen bei einem der Anwälte der Familie sowie einigen der mutmaßlichen Zeugen nur noch bestärkt. Der mit dem „Fall Joseph“ vertraute Rechtsanwalt aus der Kanzlei Bossi zeigte sich einigermaßen bestürzt darüber, dass die Eltern Kantelberg-Abdulla mit ihrer kruden Mordtheorie nunmehr offenbar an die Medien gingen: „Ich kann nur davor warnen, diese Akten in Umlauf zu bringen.“ Auch die von Schrep kontaktierten erwachsenen Tatzeugen erwiesen sich als Flop. Die waren schon am hellichten Tag betrunken und lallten irgendeinen Blödsinn. Schrep: „Letztlich war es eine von diesen irren Geschichten, die du als Journalist immer wieder auf den Tisch kriegst von Leuten, die unter Verfolgungswahn leiden.“

Dennoch ist Schrep weit davon entfernt, hämisch über die dilettierende Medienmeute zu höhnen. Schließlich hätten nicht alle mit diesem Fall befassten Journalisten die Chance gehabt, ein intensives Aktenstudium zu betreiben: „Die standen doch unter einem enormem Zeitdruck.“ Täglich gab „Bild“ in großen Lettern die moralische Schlagzahl vor („Der kleine ertränkte Joseph – Bitte, bitte! Schaut nicht mehr weg!“), die Konkurrenz hechelte blindlings hinterher in einer aufgeheizten Atmosphäre immer neuer neonazistischer Anschläge auf Synagogen und Übergriffe auf Ausländer. „Dieser ungeheure Vorwurf in dieser Zeit“, urteilt „Spiegel“-Reporter Schrep heute, „das passte wie die Faust aufs Auge.“ Eine Hysterie der Anständigen?

„Es wäre falsch, sich für eine Version zu entscheiden“

Der Dresdner Korrespondent der „Frankfurter Rundschau“ (FR), Bernd Honnigfort, hatte sich ebenfalls wochenlang durch die Akten gewühlt. Am Ende war er unentschieden, ob es sich bei dem Tod des kleinen Joseph um einen Badeunfall oder einen Mord gehandelt hatte. „Ich fürchte“, gestand der besonnene PR-Mann gegenüber Kollegen, „es wäre falsch, sich für eine Version zu entscheiden.“ Also schrieb er in seinem Blatt akribisch die „Versionen eines Todestages“ nieder. Doch Honnigforts veritable Zweifel wurden schon tags darauf von dem FR-Leitartikler verdrängt, der den „Mord am kleinen Joseph“ als eine „erschreckende Exzess-Tat“ brandmarkte – schließlich hatte er für seinen Schnellschuss die drei Festgenommenen als Alibi.

Bedenklich für die journalistische Profession ist, dass die verquasten Erzählungen einer Mutter, die an dem Tod ihres sechsjährigen Jungen womöglich irre geworden ist, bei gestandenen Rechercheuren und Reportern in einer „permanenten Pressekonferenz“ („Die Zeit“) über Wochen verfangen konnten. Dagobert Lindlau, ehemaliger Chefreporter des Bayerischen Rundfunks und ein lebenserfahrener Rechercheur, erlebte Renate Kantelberg-Abdulla in den diversen TV-Talkshows als „eine verwirrte und zutiefst verletzte Frau“. Haben dies beinahe alle mit dem „Fall Joseph“ beschäftigten Journalisten übersehen? Haben sie geflissentlich überhört, als die verzweifelte Mutter in Erich Böhmes „ntv“-Talkshow schwadronierte, wer nicht blond sei, habe kaum Chancen, vor einem deutschen Gericht Recht zu bekommen? „Eine Mutter darf alles“, hat der versierte SZ-Enthüller Hans Leyendecker diese Tragödie kommentiert, „die Presse darf das nicht.“

Die Macher der „Bild“-Zeitung, das publizistische Leitmedium im „Fall Joseph“ halten sich bis heute zugute, das Aktenmaterial mit all den zweifelhaften Zeugenaussagen und paranoiden Komplotttheorien ungewöhnlich sorgsam und intensiv recherchiert zu haben. Um sich aus der Affäre zu ziehen, bemüht „Bild“-Chefredakteur Udo Röbel die sächsische Justiz als Kronzeugen: „Mit der Unterzeichnung eines Haftbefehls wegen Mordes durch einen deutschen Richter war für ,Bild“ der letzte Zweifel beseitigt, dass im Fall Joseph mehr als ein bloßer Verdacht bestand.“ Dabei lernt jeder Volontär – vermutlich auch im Hause Springer -, dass jeder Beschuldigte und Angeklagte bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig zu gelten hat. Im Übrigen rechtfertigt auch „mehr als ein bloßer Verdacht“ noch keine Tatsachenbehauptung.

„So ist das bei vier Millionen Auflage“

Diese elementaren journalistischen Grundsätze wurden von den „Bild“-Machern ebenso missachtet wie all die anderen Warnzeichen, die sich aus dem Aktenmaterial und aus dem Erscheinungsbild der Apothekerfamilie Kantelberg-Abdulla ergeben hatten. „Es ist ein in der Kriminologie ganz bekanntes Phänomen“, sagt der auf diesem Gebiet erfahrene Journalist Lindlau, „dass Eltern oft schwere und ganz grundlose Schuldgefühle haben, wenn ihr Kind zu Tode kommt. Diese Schuldgefühle ertragen sie nur, wenn sie sich ihre schmerzliche psychische Lage erleichtern, indem sie die Wirklichkeit umdeuten.“

In dieser fatalen Situation kam den Eltern Kantelberg-Abdulla ein Massenblatt wie „Bild“ gerade echt. „Der ,Bild“-Zeitung hat das Apothekerehepaar zu verdanken, dass der Tod ihres Sohnes zum nationalen Ereignis wird“, urteilte die „Zeit“, deren Dossier-Reporter das unheilvolle Zusammenspiel zwischen der vom Schicksal geschlagenen Mutter und den Hamburger Schlagzeilenjägern detailliert geschildert haben: „Seit einer Woche halten Reporter der Boulevardzeitung in der Center-Apotheke die Stellung, am Tag und in der Nacht. Die Rosenstraße 11 ist zu einer Außenredaktion der ,Bild“-Reporter geworden. Einen Vertrag haben sie von den Eltern unterschreiben lassen und sich damit alle Unterlagen zum Todesfall Joseph gesichert. Sie gehen ein und aus, wann immer sie es für nötig halten É Ein Mann von ,Bild“ steckt den Kopf herein. ,Ihre Frau hat einen Termin beim Bundeskanzler!“ Saad Abdulla nickt strahlend: ,Danke!“ – ,Tja“, sagt der ,Bild“-Reporter, ,so ist das bei vier Millionen Auflage“.“

Die Autorität der millionenschweren Auflage hat offenbar auch auf die Ermittler im „Fall Joseph“ Eindruck gemacht. Als die „Bild“-Rechercheure in Sebnitz einfielen und bei den Behörden Tempo machten, ergingen plötzlich in einer seit Jahren ruhenden Ermittlungssache drei Haftbefehle – gegen „die mutmaßlichen Mörder“ des kleinen Joseph. Erst nachdem einer der drei Festgenommenen ein wasserdichtes Alibi vorweisen konnte, kamen die Ermittler darauf, dass die Aussagen der jugendlichen Tatzeugen erkennbar getürkt und ihnen offenbar in den Mund gelegt worden waren. Nicht nur etlichen Medien habe diese Geschichte politisch „in den Kram gepasst“, klagt Olaf Kittel, Vize-Chefredakteur der „Sächsischen Zeitung“, auch die Justiz und Politik habe hier „extrem irrational regiert“. Vor allem aufgrund der medialen Bugwelle.

„Was alle hätten tun sollen“

Dabei ist der „Fall Joseph“ keineswegs wie ein Naturereignis über die Medien gekommen. Das Beispiel des „Spiegel“-Reporters Schrep zeigt, dass einem sorgfältig recherchierenden Journalisten frühzeitig Zweifel an dem unglaublichen Verbrechen kommen mussten. Da Schrep sein Vorgehen von Anfang an mit der Ressortleitung und der Rechtsabteilung abgestimmt hatte, blieben ihm Vorwürfe der Chefredaktion erspart, eine Geschichte verschlafen zu haben. Lediglich in einer Redaktionskonferenz gab es Gegrummel, ob der „Spiegel“ hier nicht leichtfertig einen Scoop verschenkt habe.

Statt an den redaktionellen Marterpfahl kam Schrep in die Hausmitteilung des Hamburger Nachrichten-Magazins, das stolz den Berliner Tagesspiegel zitierte: „,Bild“ konnte nur deswegen als erste Zeitung über den Fall berichten, weil der ,Spiegel“ das tat, was alle hätten tun sollen – recherchieren, abwarten, prüfen.“

Der stellvertretende „Bild“-Chefredakteur Karl Günther Barth will sich für die Berichterstattung im „Fall Joseph“ erst dann entschuldigen, „wenn sich herausstellt, dass wir total falsch gelegen haben“. Und an eine wirkliche Aufklärung des Falles mag Barth nicht mehr glauben, weil er „ein Politikum und damit juristisch nicht mehr zu bewältigen“ sei. Die Mischung aus ideologischen und emotionalen Elementen hat nach Einschätzung des SZ-Rechercheurs Leyendecker zu dem medialen Debakel geführt. Das mutmaßliche Opfer ein Kind, eine verzweifelte, anklägerische Mutter, angeblich Rechtsradikale als Täter und schließlich der Tatort im Osten. Bei dieser verführerischen Mixtur des journalistischen Stoffes sei die Medienmeute aufgesprungen und habe das Rad „auf eine verrückte Weise gedreht“.

Dass eine Leitartiklerin der „taz“ den falschen Medienalarm dennoch ganz in Ordnung findet, weil die Geschichte mit dem Kind und den Nazis in Deutschland durchaus „hätte passieren“ können, zeigt wie gefährlich political correctness in der journalistischen Alltagsarbeit werden kann. Leyendecker: „Wer will die Leser warnen, wenn wirklich wieder Ungeheuerliches passiert?“

 

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