Der „rasende Reporter“

Eine Betrachtung zum 125. Geburtstag von Egon Erwin Kisch

Vor dem letzten Schuljahr, das auf das Abitur zulief, wurden die Schüler der k.k. Ersten Deutschen Staatsrealschule in Prag nach ihrem Berufswunsch befragt. Der Schüler Kisch antwortete: „Journalist.“ „Ich verbitte mir Ihre albernen Scherze“, blaffte der Klassenlehrer. Als Kisch jedoch darauf beharrte und die hoch angesehene Lehranstalt womöglich in Verruf zu bringen drohte, meinte der Pauker, er müsse das der Lehrerkonferenz zur Entscheidung vorlegen. Kisch erinnert sich in seinem autobiografischen Buch „Marktplatz der Sensationen“: „Die Lehrerkonferenz beschloß, daß mein Lebensberuf ‚Publizistik’ zu sein habe.“ Das war im Jahre 1902.

Als Kisch dann im Jahre 1906, er war 21, in seinem Lebensberuf tätig wurde, wies man ihm zunächst einen Platz zu, der nichts, aber auch gar nichts mit Publizistik zu tun hatte. Kischs jüngerer Freund und Berufskollege Theodor Balk, übrigens der spätere Ehemann der deutschsprachigen Prager Schriftstellerin Lenka Reinerová, erzählte einmal, wie sich das abgespielt hat: Kisch, um eine Anstellung bei der renommierten deutschsprachigen Tageszeitung Bohemia bemüht, saß im Café „Central“, als ihm ein alter Redakteur auf die Schulter klopfte und mitteilte, dass eine Stelle in der Redaktion frei sei. Kisch sagte sofort zu, aber der Alte versuchte ihn zu warnen mit dem Hinweis, dass es sich um die Stelle von Herrn Melzer handele. „Herr Melzer war unser Lokalreporter, wissen Sie das?“ Kisch wusste es und antwortete: „Ich komme noch heute in die Redaktion, um mich vorzustellen.“ So begann er seine Laufbahn als Lokalreporter. Es war das Miserabelste, was der an der k.k. Staatsrealschule verrufene Journalismus zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts zu bieten hatte.

Mit sozialem Tiefgang

Das hat sich gründlich geändert. Inzwischen gilt der Reporter als eine journalistische Berufsgattung, die aller Ehren wert ist. Berufskollegen verschiedener Länder haben dafür gesorgt. Im deutschsprachigen Raum ist das vor allem Kischs Verdienst. Kaum ein anderer Journalist deutscher Feder hat in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts seinen Berufsstand so geprägt wie er. Mit sprachkünstlerischen Stilmitteln hat er die Reportage zu einem literarischen Genre gemacht, versehen mit sozialem Tiefgang und gründlichem Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge.
Zwanzig Jahre nach seinen Anfängen in Prag befand sich Kisch in Berlin. Hier hatte er zwischen November 1921 und dem 28.Februar1933 einen ständigen Wohnsitz, bis er am Morgen nach dem Reichstagsbrand in seinem Untermieterquartier in der Motzstraße verhaftet und dann am 11.März an die tschechoslowakische Grenze abgeschoben worden ist. Hier entwickelte er sich zu dem weltberühmten „rasenden Reporter“.
Diesen ehrenden Beinamen, dieses Synonym hat er bekanntlich nach dem Titel seines Buches „Der rasende Reporter“ erhalten, das Ende 1924 in Berlin erschienen ist. Der Schriftsteller und Literaturhistoriker Paul Wiegler, Autor der seinerzeit maßgebenden „Geschichte der Weltliteratur“ – Kischs Zimmerkollege und Förderer bei der Bohemia – würdigte den „Rasenden Reporter“ als das beste Buch des Jahres. Es habe „mit seinen gesammelten Energien“, freilich entsprechend den seinerzeit gültigen Maßstäben, die Literatur gesprengt. Und Erich Kästner urteilte im Leipziger Tageblatt nach einer Kisch-Lesung in der Messestadt im Frühjahr 1925: „So ist es immer: Eine amüsante oder aktuelle Kleinigkeit zu skizzieren, greift Kisch zur Feder. Und im Handumdrehen wird aus der Momentaufnahme ein Dokument der Zeit; unbestechlich und bis zur Brutalität getreu; ohne artistische Absicht und doch ein Kunstwerk.“ Kisch sei „‘rasender Reporter’ und Zeitspiegel“.
Das Besondere an diesem Reportagebuch mit seinen 53 Beiträgen unterschiedlichster Thematik hat Kisch selbst folgendermaßen charakterisiert: Die Leser „sahen sich verblüfft einem Autor gegenüber, der heute in Cuxhaven den Rekord-Personendampfer ‚Vaterland’ zur Stapelfahrt besteigt und morgen ohne Übergang als Hopfenpflücker ins böhmische Land zieht – auf Seite zwanzig nächtigt er im Londoner Nachtasyl und auf Seite vierundzwanzig überfliegt er mit einem Hydroplan Venedig – all das ohne Übergang, ohne Verbindung, als spränge er, von Raum und Zeit, von Hindernissen und Kosten unabhängig, just nach seiner Laune kreuz und quer.“
Das Epitheton „rasend“ war damals sehr beliebt in der Alltagssprache. Alles war rasend: Rasend interessant, rasend aufregend, man war rasend neugierig oder in rasender Eile. So wie eben heutzutage alles spannend ist – rasend spannend. Und als es um den Buchtitel ging, da kam eben dieses „rasend“ ins Spiel. Allein aus diesem Grund und nicht etwa, weil Kisch ein „rasender“ Schreiber gewesen wäre. Alle, die ihn und seinen Arbeitsstil kannten, wussten, dass er bedächtig, langsam geschrieben hat. Das Wort abwägend. Die Sätze feilend. Jedes Manuskript in der Regel mehrfach überarbeitend, bis es reif war für den Druck.

Allgemein anerkanntes Genre

Es war auch nicht Kisch, der dieses schmückende Beiwort „rasend“ zum Reporter fügte. Die Pragerin Jarmila Haasová-Necasová (1896–1990), eine Jugendfreundin von Milena Jesenská, eng befreundet auch mit Anna Seghers, Leonhard Frank, Arthur Holitscher, Nico Rost und anderen schreibenden Zeitgenossen, ist es gewesen, die den „rasenden Reporter“ erfunden hat. Sie war Kischs Freundin und Vertraute, die von ihm autorisierte Übersetzerin aller seiner – generell in deutscher Sprache verfassten – Werke ins Tschechische. Das letzte Buch, das zu seinen Lebzeiten erschienen war – „Die Entdeckungen in Mexiko“ aus dem Wiener Globus Verlag – widmete er Jarmila am 16. September 1947 als „Autorin der Bezeichnung ‚rasender Reporter’, dem ich vollkommen zustimme“.
Die Reportage hat heute einen angestammten Platz in den Medien. Und wenngleich auch die Ahnen der Reportage vor Jahrtausenden zu finden sind – Platon mit seinem Bericht über den Tod des Sokrates oder Pliniusd.J. mit seinem Bericht an Tacitus über den Ausbruch des Vesuvs –, unbenommen bleibt, was der Prager Kisch-Kollege und Kafka-Freund Max Brod einst herausgefunden hat: Als Kisch vor einem Jahrhundert seinen Job begann, vor dem Ersten Weltkrieg, da hat dieser Begriff im „Katalog der Kunstformen“ noch nicht einmal existiert. Erst in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist die Reportage „zu einem allgemein anerkannten Genre der sozialkritischen Literatur und der visuellen Wiedergabe“ geworden, konstatierte der Historiker Eric Hobsbawm in seinem Werk „Das Zeitalter der Extreme“. Erst in dieser Zeit sei der Begriff „Reportage“ auch in Lexika aufgetaucht. In französischen erstmals 1929, in englischen 1931. Hobsbawm konstatiert: „Der tschechische kommunistische Journalist Egon Erwin Kisch schien diesen Begriff in Mitteleuropa endgültig durchgesetzt zu haben.“
Kisch gebe einem Selbstbestätigung im eigenen Beruf, meinte Helmut Karasek anläßlich einer Kisch-Buchpremiere im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße. Wenn man Kisch als Vorbild habe, dann brauche man nicht zu sagen: „Ich bin nur Journalist, sondern: Ich bin Journalist. Und Journalist, das ist ein Ehrentitel.“ Kisch sei der Wahrheit und der Realität in besonderer Weise verpflichtet gewesen. Ohne „das Vorbild und das Beispiel von Kisch“, so resümierte Karasek, gäbe es heute keine „Seite Drei“, keine Reportagen in den großen Zeitungen und Magazinen. Und so wird folgerichtig, wie jedes Jahr auch im Mai 2010 vom Stern als Herzstück des Henri Nannen-Preises der Egon Erwin Kisch-Preis verliehen. Und zwar, so die Stern-Begründung, „als Beitrag in der Königsdisziplin der Schreiber, der Reportage“

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Buchtipp: Sprache des Kapitalismus

Über gendersensible Sprache läuft schon seit Jahren eine hochemotionale Debatte. In Bayerns Schulen, Hochschulen und Behörden gilt seit dem 1. April sogar ein Genderverbot. Über Begrifflichkeiten wie „steigende Preise“ oder Finanzkrisen, die wie ein „Tsunami“ über uns kommen, wird dagegen weniger gestritten. Sie beherrschen längst unser Denken und Sprechen, sind in unseren Alltag eingedrungen. Wer in diesem Wirtschaftssystem sozialisiert wurde, nutzt sie automatisch, ohne weiter darüber nachzudenken.
mehr »

Preis für behinderte Medienschaffende

Zum zweiten Mal schreibt in diesem Jahr die gewerkschaftsnahe Otto Brenner Stiftung zwei Preise und Stipendien für Journalist*innen mit Behinderung aus. Damit soll „ein klares Signal für die Förderung von Diversität als unverzichtbaren Wert in unserer demokratischen Gesellschaft“ gesetzt werden, sagt Jupp Legrand, Geschäftsführer der Stiftung. 
mehr »

KI darf keine KI-Texte nutzen

Die Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der KI im eigenen Metier wird Journalist*innen noch lange weiter beschäftigen. Bei der jüngsten ver.di-KI-Online-Veranstaltung ging es um den Anspruch an Gute Arbeit und Qualität. ver.di hat zum Einsatz von KI Positionen und ethische Leitlinien entwickelt. Bettina Hesse, Referentin für Medienpolitik, stellte das Papier vor, das die Bundesfachgruppe Medien, Journalismus und Film zum Einsatz von generativer Künstlicher Intelligenz im Journalismus erarbeitet hat.
mehr »

Unabhängige Medien in Gefahr

Beim ver.di-Medientag Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen diskutierten am 20. April rund 50 Teilnehmende im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig die aktuelle Entwicklungen in der Medienlandschaft, die Diversität in den Medien und Angriffe auf Medienschaffende. Das alles auch vor dem Hintergrund, dass bei den kommenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg die AfD laut Umfragen stark profitiert. 
mehr »