Sozialer Mehrwert im Journalismus 

Wie Propaganda im Zusammenwirken mit Gewalt politische Teilhabe verhindert, weiß die Medienforscherin und Journalistin aus Belarus Katja Artsiomenka. Foto: Udo Milbret

„Wir müssen uns wieder auf Vielfalt, Transparenz, Relevanz besinnen und den Mehrwert von Journalismus erklären“, so Matthias Kurp, Journalismusprofessor in Köln. Er leitete das ver.di-Seminar „Medien, Meinungsfreiheit, Moral“ in Bielefeld. Die Teilnehmenden diskutierten engagiert darüber, wie Journalist*innen in Zeiten digitaler Transformation und gesellschaftlicher Umbrüche sozial verantwortungsvoll arbeiten können.

Medien könnten kein Abbild der Wirklichkeit bieten, sondern nur eine konstruierte Wirklichkeit, sagte Kurp bei der Veranstaltung Ende September. Und diese sei immer von Deutungen des „erkennenden Subjekts“ abhängig, das sich in einem gesellschaftlichen System mit bestimmten Regeln und Normen, der geltenden Moral, bewegt. Für Medienschaffende gibt es zum Beispiel im Pressekodex ethische Leitlinien für verantwortungsvolles Berichten, wie Sorgfaltspflicht oder Diskriminierungsverbot. Nur wenn dem kommunizierenden Subjekt vertraut werde, seien auch die vermittelten Inhalte glaubwürdig. „Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind die zentralen Währungen der Medien“, so Kurp. 

Durch die Digitalisierung geraten traditionelle Medien in eine Vertrauenskrise, denn ihre Regeln für die Vermittlung von Wirklichkeit erfahren eine Umdeutung. Kurp erläuterte das am Beispiel des Nachrichtenfaktors Relevanz – dem Kriterium, das die Bedeutung eines Ereignisses oder Sachverhaltes für die Rezipierenden anzeigt.

Wie Algorithmen uns in eine Relevanzfalle führen

In der durch Algorithmen geprägten Online-Ökonomie werde Relevanz von der Reichweite einer Information abgeleitet und das schränke die Informationsvielfalt ein, so Kurp. Algorithmen als  Handlungsvorschriften für Rechner filtern, sortieren, verbreiten und personalisieren Medieninhalte, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Das begünstige „Emotionen und extreme Meinungen“, während „Faktizität und publizistische Qualität“ bedroht würden. 

Kurp problematisierte, dass wir „im Gegensatz zu Wasser- und Stromversorgung das Informationsmanagement aus der Hand geben“ und es privaten Tech-Konzernen wie Google und Microsoft überlassen. „Wir sitzen in Echokammern“, so Kurp, weil alles technologisch aufeinander abgestimmt sei. Es müsse offene Schnittstellen geben, denn die Demokratie brauche etwas anderes als das Geschäftsmodell der Tech-Konzerne, bei dem Google-Analytics die Maßstäbe für Klicks setze – entsprechend kommerziellen Bedürfnissen des Werbe- und Rezipierendenmarktes. Zudem könnten hinter den klickenden Accounts statt Menschen auch Socialbots stecken. „Nutzerdaten als Kriterium für Relevanz ist eine Falle“, warnte Kurp.

Da sei mehr politische Regulierung gefragt und Medienschaffende sollten „auch Sprachrohr für Menschen am Rande der Gesellschaft“ sein, sich auf Vielfalt und Transparenz besinnen. Künstliche Intelligenz mit immer größerer Rechenleistung biete zwar eine wichtige Hilfe beim Umgang mit Big Data, aber Menschen seien in den Redaktionen immer noch gefragt, wenn es darum geht, Themen zu setzen und Debatten zu initiieren, Entwicklungen anhand moralischer Prinzipien einzuordnen oder gesellschaftlich relevante Perspektivenvielfalt zu vermitteln. „Wenn Journalist*innen Themen setzen, kann man mit ihnen darüber diskutieren, mit Algorithmen geht das nicht“, so Kurp. Google habe 200 Kriterien für Relevanz, die durch selbst lernende Algorithmen immer neu gewichtet würden. Wie das funktioniert, könnten selbst die google-Macher*innen nicht mehr erklären.

Neben dem „falschen Relevanzbegriff“ nannte Kurp als weiteren Grund für die Vertrauenskrise der Medien Polarisierungen, die von der algorithmischen Logik befeuert werden. Fake News, das heißt absichtlich gefälschte Nachrichten, Hass und Hetze bekommen am meisten Aufmerksamkeit und polarisierten auch in Deutschland die Debatten über Corona, Geflüchtete oder Ukrainekrieg. Die notwendige journalistische Komplexitätsreduktion mutiere zu einer Vereinfachung von Wirklichkeit durch Verschwörungserzählungen und Propaganda – gerade in Zeiten multipler Krisen und großer Verunsicherung der Menschen. Das führe zu Desinformation und Destabilisierung von Demokratie. 

Belarus: Fehlende Medienfreiheit und wachsende Verantwortung

Wie Propaganda im Zusammenwirken mit Gewalt politische Partizipation verhindert und Medienmisstrauen sät, erläuterte die aus Belarus stammende Medienforscherin und Journalistin Katja Artsiomenka. In dem Land gebe es keine Medienfreiheit mehr, denn auf die Proteste gegen die gefälschte Wiederwahl von Alexander Lukaschenko 2020 reagiere das Regime mit verstärkter Repression. 

Nach Bildern protestierender Menschenmassen seien jetzt nur noch Bilder von Lukaschenko zu sehen – etwa, wie er den russischen Präsidenten Putin umarmt. Ausländische Programme wie die Deutsche Welle könnten nur noch über Telegram weitergegeben werden, wo sich auch Proteste der belarussischen Zivilgesellschaft organisierten. Doch diese einzige alternative Plattform sei nach dem russischen Angriff auf die Ukraine für Belaruss*innen unsicher geworden.

Artsiomenka präsentierte ihr Hörfunk-Feature „Die Unsichtbaren“ über belarussische Journalist*innen im Exil. Diese erzählen von den Repressionen, die sie in dem Staat erlitten, der sie zu Verbrecher*innen erklärt hat. Von 517 Journalist*innen in Haft, stammten aktuell laut RSF allein 36 aus Belarus. Auch Medienschaffende, die ihren Beruf nicht mehr ausübten, würden verhaftet und journalistische Inhalte, etwa im Chat kriminalisiert. „Für uns ist es ein Geheimnis, wie öffentliche Meinung sich bildet, wenn selbst Lesen gefährlich ist“, sagte Katja Artsiomenka. 

Alle politischen Inhalte würden im Ausland produziert. In belarussischen Medien gebe es nur Propaganda. Online hielten sich noch einige Lifestyle-Magazine, die aus Sicherheitsgründen mit Symbolbildern arbeiteten, Modemodels ohne Köpfe zeigten und nur Vornamen nennen würden. „Wie naiv muss man da sein“, fragte Artsiomenka mit Blick auf eine Straßenumfrage, die deutsche Reporter*innen 2021 machten. Sie hätten schließlich eine Verantwortung für die Menschen, die im Nachhinein verhaftet wurden. Belarussische Medien zeigten nur in Ausnahmefällen Gesichter, denn sie könnten auch nachträglich als extremistisch eingestuft werden. So gebe es kaum Bilder außer von Lukaschenko, einen schlechten Quellenzugang, Faktenprüfung sei nur über Netzwerke möglich. Da müsse man „radikal mit Informationen umgehen und eventuell nichts veröffentlichen“, so Artsiomenka. 

Gesellschaftliche Vielfalt durch miteinander reden 

In der anschließenden Diskussion ging es zunächst darum, wie Journalist*innen ihre Verantwortung in Zeiten der Multikrisen wahrnehmen können. Konstruktiver Journalismus, der sein Nachrichten müdes Publikum durch lösungsorientierte Berichterstattung zurückgewinnen will, stieß bei den Referent*innen auf Skepsis. Kurp meinte, man solle den konventionellen Journalismus nachschärfen, aber „nicht durch diese neue Spielart abwatschen“, denn das könne seine Wächterfunktion gefährden. Auch Artsiomenka war überzeugt, eine Gesellschaft müsse „Tragisches“ aushalten können, denn wenn man immer eine Lösung präsentieren wolle, sei das Populismus. Zu der Frage, ob Künstliche Intelligenz den Journalist*innen die Arbeit wegnehme, hieß es, sie verlören zwar ihre Gatekeeperfunktion, müssten aber noch viele andere Leistungen erbringen, die es in gesellschaftlichen Debatten zu erklären und durch medienpolitische Lobbyarbeit – auch der Gewerkschaften – zu erhalten gelte. 

Eine wichtige Leistung ist die Repräsentation gesellschaftlicher Vielfalt, die noch ausbaufähig ist, wie ein Gespräch mit dem deutschen Sinto Oswald Marschall zeigte, der als erfolgreicher Boxer 1974 im deutschen Nationalteam an der Europameisterschaft in Kiew teilnahm. Er ist Vorsitzender des Vereins Deutscher Sinti in seiner Heimatstadt Minden und engagiert sich beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg. 

„Ich bin Deutscher. Ich kann doch nicht sagen, ich bin Inder und war 600 Jahre unterwegs“, so kritisierte Marschall den ständigen Hinweis auf die Abstammung von Sinti und Roma, verbunden mit Ausgrenzung und Diskriminierung – als „Exoten“, als „bildungsfern“ oder im Kontext von Kriminalität. Er berichtete vom Fall des Boxers Christian Goman, der 2016 deutscher Jugendmeister wurde und im Juli 2022 als „Sicherheitsrisiko“ aus der Bundeswehr entlassen wurde – bisher ohne weitere Begründung. So bleibe als Erklärung nur sein Nachname „Goman“, den er mit einer Roma-Großfamilie in Leverkusen teilt, aus der einige Mitglieder durch organisierte Kriminalität aufgefallen seien. Christian Goman sei aber nicht verwandt mit dieser Familie.

Wie kann man über diesen Fall verantwortungsvoll berichten, fragte sich die Seminarrunde. Einige Ideen: Zunächst recherchieren, ob es wirklich keine verwandtschaftlichen Beziehungen gibt, den Fall im Kontext diskriminierender Klischees von „Clankriminalität“ und Sippenhaft kommentieren oder Christian Goman porträtieren und die Schlussfolgerungen zu seiner Bundeswehrentlassung den Rezipierenden überlassen.  

Oswald Marschall erläuterte an eigenen Erfahrungen, wie sehr Sinti und Roma, die inzwischen eine der vier anerkannten Minderheiten in Deutschland sind, sich noch „als Fremde im eigenen Land“ fühlen, denn immer wieder stießen sie auf Menschen, die sich anmaßen, „über uns uralte Klischees verbreiten zu können, obwohl sie doch so wenig über uns wissen.“ Marschall war überzeugt: „Der Schlüssel für Aufklärung ist miteinander reden.“ 

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