Die Entfremdung stoppen – aber wie?

Verschiedene Studien wie unter anderem die Mainzer Langzeitstudie „Medienvertrauen“ zeigen ein zwiespältiges Verhältnis von Medien und ihrem Publikum: Während das Vertrauen zunimmt, wächst zugleich die Entfremdung – und zwar rasant. Waren es 2017 noch 18 Prozent, so stimmten ein Jahr später bereits 27 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Die Medien haben den Kontakt zu Menschen wie mir verloren.“ Doch zeigen die Ergebnisse der Mainzer Befragung auch: Je mehr die Menschen über Medien wissen, desto mehr vertrauen sie ihnen.

Sind dialogische Formate wie Leserkonferenzen also die richtige Antwort auf die Entfremdung? Oder erreicht man damit ohnehin nur diejenigen Leser*innen mit fundierter und differenzierter Medienkritik? Und was kann noch getan werden, um das Vertrauen in die Medien und deren Glaubwürdigkeit (wieder) zu stärken? Wir haben vier Journalist*innen und Medienwissenschaftler*innen gefragt.

Tanjev-Schultz Foto: JS-Mainz

Tanjev Schultz, Professor für Journalismus an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und einer der Autoren der Mainzer Langzeitstudie „Medienvertrauen“:

Dialog-Formate sind in jedem Falle gut, auch wenn sie nur bestimmte Gruppen erreichen. Manche Menschen sind nur schwer oder gar nicht mehr zu gewinnen, es kommt für die Medien aber gerade darauf an, die konstruktiv Kritischen nicht zu verlieren. Dialog-Offensiven müssen nachhaltig sein. Wer sie nur als PR-Strohfeuer nutzt, steht bald im Dunkeln da. Deshalb reicht es nicht, auf ein paar große Kampagnen zu setzen. Der Journalismus muss auch im Alltag beweisen, dass er nicht abgehoben ist.

Doch welche Redaktion hat noch die Ressourcen, dass sie ihre Leute wirklich ausschwärmen lässt? Tauchen Journalistinnen und Jour-nalisten überhaupt noch auf, wenn der Gemeinderat tagt oder eine Schule ihr Fest feiert? Alle sprechen vom Zuhören. Aber gibt es jenseits spezieller Formate im journalistischen Betrieb überhaupt noch Zeit zum Zuhören? Die Zeit, sich auf Menschen einzulassen, ohne dass schon die Richtung einer Recherche feststeht? Und die Zeit und den Mut, das Gleis zu verlassen, auf dem eine Redaktion unterwegs ist?

Bewegen sollte sich auch die Politik: Die Medienbildung in den Schulen ist, allen Sonntagsreden zum Trotz, eine Katastrophe. Sie muss stärker werden. Und sie muss stärker als bisher den Journalismus in den Mittelpunkt rücken. Das Wissen über den Journalismus muss wachsen. Die Lektüre einer (digitalen) Zeitung sollte in jeder Schule Standard sein. Das Lesen einer Zeitung könnte zur dauerhaften Hausaufgabe werden. Absurd? Ja, warum denn? Weil so eine „Lese-Pflicht“ eher abschreckend wirken würde? Da wäre die Pädagogik gefragt! Das Argument einer Abschreckung hat uns ja auch nicht gehindert, Goethe und Schiller oder die binomischen Formeln zur Pflicht zu machen.

Luise Strothmann Foto: privat

Luise Strothmann, war Vize-Chefin der taz am Wochenende und ist seit 2019 verantwortlich für die Produktentwicklung der taz im Netz:

Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen und überzeugt davon, dass Journalist*innen von Biobäuer*innen lernen können. Viele Menschen sind bereit, mehr für ein Ei zu bezahlen, dass nicht in einem Käfig gelegt wurde, seit sie wissen, dass Ei nicht gleich Ei ist. Wenn wir es als Teil unserer Arbeit verstehen, zu vermitteln, wie unabhängiger Journalismus entsteht, werden auch mehr Menschen bereit sein, uns darin zu unterstützen. Dass viele Leute nicht wissen, wie Journalist*innen arbeiten, ist kein Problem von Bildung. Wir machen es Menschen nicht leicht, etwas darüber zu erfahren. Lange galt es als selbstbespiegelnd, Recherchewege in einem Artikel transparent zu machen.

Natürlich ist es schwer, elegante Methoden zu finden, Quellenlagen und Arbeitsweise in Texten zu verdeutlichen, ohne sie komplizierter zu machen und ohne Journalist*innen unnötig in den Vordergrund zu spielen. Aber ich glaube, dass die Arbeit am Vertrauen keine ist, die wir in monatliche Veranstaltungen delegieren können und dann beruhigt weitertippen. Sie betrifft unser tägliches Tun.

Dennoch können wir dem Dialog natürlich auch Formen geben. Dass kann ein Schulprojekt sein, eine Netflix-Dokuserie, die die Arbeit von Journalist*innen begleitet, eine Crowd-Recherche, eine Instagram-Story. Aber gerade bei Schulbesuchen gilt: Es geht nicht nur darum, sich zu erklären. Zu senden. Lasst uns zuhören! Ich hoffe sehr darauf, dass der Journalismus in den kommenden Jahren von der radikalen Nutzer*innen-Zentriertheit des Digitalen profitiert. Wir bei der taz haben uns kürzlich gefragt, warum wir eigentlich immer Journalist*innen einladen, um unsere Zeitung oder unsere Webseite zu kritisieren. Seitdem kommen regelmäßig Leser*innen, um uns ihre Meinung sagen. Und wir versuchen dabei verschiedene Per-spektiven abzubilden. Ich habe zu Beginn geschrieben, dass ich
Bauerntochter bin. Viele meiner Kolleg*innen sind weiße Lehrerkinder. Eine einzige Kollegin ist Tochter einer Putzfrau. Wenn Journalismus weniger elitär werden will, dann ist ein guter Weg dahin, bei der Diversität der Menschen anzufangen, die in den Redaktionen arbeiten.

Uwe Krüger Foto: Bernd Roeder

Dr. Uwe Krüger, Forschungskoordinator des Zentrums Journalismus und Demokratie der Universität Leipzig und Autor des Buches „Mainstream – Warum wir den Medien nicht mehr trauen“ (C.H.Beck 2016):

Aus meiner Sicht gründet die Entfremdung größerer Teile der Bevölkerung von den etablierten Medien auf Repräsentationsdefiziten. Im Subtext der Berichterstattung dominieren häufig bestimmte Werte und Perspektiven, die sich keines bevölkerungsweiten Konsenses erfreuen, z.B. liberal-kosmopolitische Werte und ein west-zentrischer Blick auf das außenpolitische Geschehen. Zudem haben die eingespielten Selektions- und Produktionsroutinen großer Redaktionen und auch deren Abhängigkeit von der PR ressourcenstarker Institutionen aus Politik und Wirtschaft zur Folge, dass in der laufenden Berichterstattung vor allem der Eliten-Diskurs abgebildet wird. Was an der gesellschaftlichen Basis läuft und was Menschen denken, die keine Kommunikationsprofis sind oder haben, bleibt so häufig unterbelichtet.

Dagegen helfen in erster Linie nicht Dialogformate, Leserkonferenzen und Transparenzoffensiven, sondern Recherche und Reportage, Wertepluralismus und Meinungsvielfalt. Die vielen parallel laufenden Diskurse in einer heterogenen Bevölkerung gilt es abzubilden, zu kuratieren und zu moderieren. Ein ständiger Abgleich zwischen den Perspektiven von „oben“ (Eliten) und „unten“ (Nicht-Eliten) sowie von Perspektiven verschiedener Milieus (etwa: konservativ-kleinbürgerlicher vs. progressiv-postmaterialistischer) muss zum Programm des Journalismus gehören. Für solche Perspektivwechsel hilfreich ist übrigens das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg, das in Konfliktfällen empfiehlt, die Positionen der Konfliktparteien aufzusplitten in die jeweiligen (1) Wahrnehmungen, (2) Gefühle, (3) Bedürfnisse und (4) Bitten der Beteiligten. In unserer vielfach gespaltenen Gegenwartsgesellschaft können Journalistinnen und Journalisten, die verständigungsorientiert berichten wollen, von diesem Konzept viel lernen.

Prof. Dr. Wiebke-Loosen Foto: HBI

Prof. Dr. Wiebke Loosen, Senior Researcher Journalismusforschung am Leibniz-
Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) und Professorin an der Universität Hamburg:

In der Journalismus-Publikums-Beziehung hat man mit Verständigungsproblemen zu kämpfen und mit-unter auch mit mangelnder gegenseitiger Wertschätzung für die Leistungen des anderen – und sie muss unter sich wandelnden Medien- und Kommunikationsbedingungen ständig neu austariert werden. Dialogische Formate wie Leserkonferenzen sind ein Mittel dafür und stehen insofern für eine neue Entwicklungsstufe in der Journalismus-Publikums-Beziehung. Sie stellen eine Interaktionsbeziehung unter den Bedingungen von Anwesenheit dar, die in der Form im Journalismus eine vergleichsweise neue Praxis darstellt und von allen Beteiligten erst gelernt werden muss. Und sie sind vor dem Hintergrund eines grundlegenden Wandels der Beziehung zwischen Journalismus und (seinem) Publikum zu sehen.

Seit ich mich in meiner Forschung mit der Transformation dieser Beziehung beschäftige, denke und beobachte ich sie mehr und mehr als soziale Beziehung. Dann wird deutlich, dass „die Größe Publikum“ sich für Journalist*innen mehr und mehr verflüssigt hat, sich ein Medium z. B. oft mit unterschiedlichen Erwartungen seiner Nutzer*innen etwa auf Facebook und der Leser*innen der Printausgabe konfrontiert sieht. Auch sind in Teilen des Publikums die Erwartungen an Transparenz und Dialogorientierung gestiegen, gleichzeitig haben Journalist*innen aber auch oft die Tendenz, den Partizipationswillen ihres Publikums zu überschätzen. In der täglichen journalistischen Arbeit zeigt sich das daran, dass Journalist*innen oft sehr unmittelbar mit allen möglichen Formen von nicht immer willkommenen Publikumsreaktionen und Kritik konfrontiert sind und auch, dass Produkte nicht nur ‚abgeliefert‘ werden, sondern mitunter auch kommuniziert werden muss, wie und unter welchen Bedingungen sie entstanden sind.

Viele Journalist*innen versuchen, all diese Ebenen der Publikumsbeziehung in ihrer Arbeit „mitzudenken“ – das habe ich in meiner empirischen Forschung immer wieder beobachten können. Zum Teil leiden sie dabei an etwas, was man als eine „multiple Publikumsstörung“ bezeichnen könnte, die sich einerseits aus den als widerstreitend wahrgenommenen Publikumserwartungen ergibt und andererseits aus ihren journalistisch-professionellen Rollenselbsterwartungen.

Eine Besonderheit der Journalismus-Publikum-Beziehung ist, dass sie nur einseitig aufgekündigt werden kann: Journalismus braucht (s)ein Publikum und muss sich deswegen um eine neue Beziehungskultur und ein Austarieren all dieser z. T. widersprüchlichen Erwartungen bemühen. Gleichzeitig gehört eine gewisse Distanz gegenüber Publikumserwartungen zur journalistisch-professionellen DNA: andernfalls lässt sich kaum ein Angebot machen, das an alle adressiert ist und gerade deswegen nicht jedem gefallen darf.


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