„Die Erfindung der bedrohten Republik“

Das Wandbild an der Berliner Schillingbrücke verkündet seit 2015 eine eindeutige Position! Die Botschaft wird von einem großen Teil der Gesellschaft weiterhin getragen, aber sie hat auch zunehmend polarisiert.
Foto: Hermann Haubrich

Die deutsche „Flüchtlingskrise“ war in Wahrheit eine gewaltige Medien- und Politikkrise, meint Autor und TV-Produzent David Goeßmann. Er belegt minutiös, wie manipulativ von gesellschaftlichen Eliten und Medien Krisenstimmung erzeugt und eine repressive Flüchtlingsabwehr als alternativlos durchgepeitscht wurde. Günter Herkel hat mit dem Autor gesprochen.

M | Die „Öffnung der Grenzen“ 2015 für den in Mitteleuropa feststeckenden Flüchtlingstreck, so Ihre These, war weniger ein humanitärer Akt als ökonomisches Kalkül. Wieso?

David Goeßmann
Foto: Privat

David Goeßmann | Nach offizieller Lesart hat damals die Bundesregierung aus humanitären Gründen die Grenzen geöffnet – de facto gab es ja keine Grenzen – aber sie hat die Flüchtlinge weiter ziehen lassen von Ungarn über Österreich und dann nach Deutschland. Dabei hat die Regierung seit Jahrzehnten ein Abschottungsregime auf europäischer Ebene organisiert. Auch danach wurde wieder brutal abgeschottet – mittels EU-Türkei-Deal, Kriminalisierung der Seenotrettung usw. Die Industrie- und Wirtschaftsverbände haben sich damals hinter die Entscheidung von Angela Merkel gestellt. Sie fürchteten sonst eine Kaskade von Grenzschließungen, und das hätte natürlich den Exportweltmeister Deutschland sehr hart getroffen. Anfang 2016 haben sie sich dann dafür stark gemacht, die Grenzen an den europäischen Außengrenzen dicht zu machen, um den Nachzug von Flüchtlingen zu stoppen. Man sieht daran, dass es ein Kalkül gewesen ist.

Die „Kölner Silvesternacht“ trug ja maßgeblich dazu bei, dass aus „Refugees Welcome“ später durch eine gesteuerte öffentliche Meinung das Roll-back stattfand.

Die Kölner Silvesternacht hat damals eine zentrale Rolle gespielt, mit einer massiven Öffentlichkeit – 33.000 Presseartikel zum Thema allein für 2016 – das stellt sogar den Klimawandel in den Schatten. Die Funktion dieser Stigmatisierung von Flüchtlingen und Migranten war, die Bürger fit zu machen, wegzuschauen bei dem, was im Hintergrund politisch organisiert wurde: Die Abdichtung der Grenzen, vor allem die Schließung der Balkanroute. EU-Türkei-Route. Das hat im Mittelmeer zu vielen Tausend Toten geführt, zu Menschenrechtsverletzungen und unhaltbaren Zuständen in den Flüchtlingslagern, in Griechenland, im Irak, auch an der türkisch-syrischen Grenze. Die Botschaft: Wir werden bedroht von Flüchtlingen, sie greifen unsere Frauen an.

Die Realität war eine andere…

Bei genauerem Hinschauen spiegeln die Ereignisse auf der Kölner Domplatte – das sagen die Sachverständigen im NRW-Untersuchungsausschuss – mehr oder weniger deutsche Normalität. Wir haben dort kein Sodom und Gomorrha erlebt. Genau dieser Eindruck wurde aber durch eine extreme Berichterstattung erweckt, auch mittels einer unangemessenen Sprache. Es wurde vom arabisch-nordafrikanischen Sexmob geredet, dass Frauen dort Freiwild geworden sind. Wir haben einen ähnlichen Fall jetzt wieder in Düsseldorf gehabt, die Schließung des Schwimmbads aufgrund eines „Mobs“ von 50 möglicherweise Flüchtlingen. Das Ganze stellte sich nach ARD-Recherchen schnell als Luftnummer heraus. Es bleibt aber im öffentlichen Bewusstsein hängen. Die Botschaft ist gesetzt, auch wenn sich nachher herausstellt, dass nichts dran war.

Die Medien agierten widersprüchlich.  Selbst Bild machte anfangs bei der Bewegung „Refugees welcome!“ mit, um nach kurzer Zeit wieder zu business as usual – rassistischer Berichterstattung zurückzukehren. Aber wie steht es mit den Qualitäts- und Leitmedien?

Die Medienberichterstattung hat einerseits den „Willkommens-Sommer“ partiell mitgemacht – die Berichterstattung war übrigens nicht flüchtlingsfreundlich, sondern allenfalls nicht flüchtlingsfeindlich. In der zweiten Phase, der Abschottungsphase, haben sich alle Medien hinter den Abschottungskurs gestellt. Ein Kernelement war der EU-Türkei-Deal, der im Grunde bedeutete, dass keine Flüchtlinge mehr über diese relativ ungefährliche Landroute kommen konnten. Das haben alle unterstützt. Die Süddeutsche Zeitung, eigentlich ein linksliberales Blatt, gab diesen Kurs vor. Daraufhin haben auch die anderen Mainstream-Medien gesagt: Es gibt keine andere Option, wir müssen uns irgendwie gegen diese Migrationswelle stemmen, sonst kommen alle. Ich zeige, dass das nicht der Realität entspricht. Die Grenzen waren schon vorher ziemlich dicht, und sie waren auch während der Krise relativ dicht. Es gab lediglich vorübergehend einen vermehrten Zuzug. Aber die Medien stellten sich alle hinter die Position, die eine Abschottung Europas für unvermeidlich hielt.

Verfahren wurde nach dem TINA-Prinzip: There Is No Alternative! Gab es, gibt es keine Alternative zur herrschenden Politik?

Es gibt andere Optionen. Seit 30 Jahren liegt ein in einem mehrjährigen Prozess ausgearbeiteter Entwurf auf dem Tisch. Er stammt von einem Team um den führenden Flüchtlingsrechtsexperten James C. Hathaway. Darin wird vorgeschlagen, den Flüchtlingsschutz von der nationalen auf die internationale Ebene zu übertragen. Angestrebt wird ein faires Verteilsystem, ein faires Lasten- und Verantwortungssystem, bei dem die Kosten geteilt werden, auch für die Flüchtlingsversorgung. Solche Alternativen kommen in der Berichterstattung schlicht nicht vor. In letzter Konsequenz bedeutet der Plan, dass die Staaten der Europäischen Union einschließlich Deutschland viel mehr machen müssen. Neun von zehn Flüchtlingen sind nach Ansicht der Experten nicht geschützt. Sie leben unversorgt in Lagern irgendwo im arabischen Raum oder in Afrika, in Südostasien. Flüchtlinge haben nicht nur das Recht, nicht abgeschoben zu werden in ihr Heimatland, wo sie verfolgt werden, sondern sie haben auch Rechte wie Wohnen, Arbeiten, Mobilität. Das aber würde bedeuten, dass wir ganz anders mit Flüchtlingen umgehen müssen. Vor allem die Industrienationen müssten viel mehr tun. Und das wollen sie nicht.

Gab es positive Ausnahmen bei der Flüchtlingsberichterstattung?

Durchaus. Ich denke an Georg Restle, der auch in seinen Tagesthemen-Kommentaren immer eine klare Position zugunsten einer humanen Flüchtlingspolitik bezogen hat. In der taz hat Christian Jakob die Migrationsabsprachen mit afrikanischen Ländern sehr gut eingefangen. Es gibt da und dort auch gute Kommentare von Heribert Prantl von der SZ. Leider hat er sich 2016, als das Abschottungsregime aufgebaut wurde, rausgezogen. Seine Nachfolger stellten den EU-Türkei-Deal wieder als alternativlos dar. Es gibt vereinzelt gute Berichterstattung. Aber der ideologische Rahmen wurde niemals aufgegeben: dass wir uns abschotten müssen, sonst kommen alle. Und ich zeige das eben in Analysen, dass das nicht so stimmt. Wir haben nie offene oder poröse Grenzen gehabt. Jetzt 2018 sind wir auf dem niedrigsten Stand jemals seit 20 Jahren – was die sogenannte „illegale Migration“ angeht. Aber wir haben eine riesige Diskussion darüber, dass uns die Migration belastet in der Europäischen Union. Die Menschen, die fliehen oder zwangsweise zu uns migrieren, tun das oft wegen Zuständen in ihren Heimatländern, an denen wir mitverantwortlich sind. Wir haben eine moralische Krise gehabt 2015/16. Die eigentliche Flüchtlingskrise aber herrscht seit Jahrzehnten in den Entwicklungsländern im globalen Süden. Die wird aber von den Medien nicht thematisiert.

Unter dem Druck der Rechten kam es nach der Kölner Silvesternacht zu einer Modifikation des Pressekodex. Seit 2017 sollen Medien die Herkunft von Gewalttätern nennen, wenn es „ein begründetes öffentliches Interesse“ daran gibt. Ein Kodex zum Schüren von Vorurteilen?

Der Pressekodex hat keine bindende Funktion. Es ist eine Leitlinie für Journalisten. Mit der Änderung wurde im Grunde ein Signal gesetzt: Ihr könnt jetzt aus eurer journalistischen Verantwortung, um Tabus zu vermeiden, die Herkunft nennen. Und das ist natürlich sehr fatal. Weil die meisten Journalisten denken: Was ist so schlimm daran, zu sagen: Es war ein Syrer? Das Problem ist, dass ich auf diese Weise beim Zuschauer eine kausale Verbindung herstelle. Es kann ein begründbarer Sachbezug gegeben sein, wenn wir etwa Hate Crime haben, Hassverbrechen, wenn wir Terrorangriffe haben, dann kann das durchaus sein, dass die Herkunft eine Rolle spielt. Auch dann, wenn es um polizeiliche Informationen geht, wenn der mutmaßliche Täter auf freiem Fuß ist und man versucht, ihn zu ermitteln. Aber das war in Köln nicht der Fall. Das heißt, hier werden rassistische Narrative konstruiert, die dann natürlich den Fokus darauf lenken: Okay, hier sind wieder Syrer, die ein Verbrechen begangen haben.

Wie kann es sein, dass ein liberales Leitmedium wie die Zeit sich zu einer menschenfeindlichen Schlagzeile wie „Oder soll man es lassen?“ hinreißen lässt?

Die liberalen Medien haben immer den politischen Kurs der Regierung und der Eliten getragen. Sie haben eine sehr wichtige Funktion, nämlich Zustimmung herzustellen zum politischen Kurs, auch in der politischen Klasse, also bei den Eliten selber. Schon bei der Agenda 2010 und der Hartz-IV-Reform haben auch die liberalen Medien – SZ, Spiegel, Zeit –  gesagt, das sei alternativlos, das müssen wir machen. Ebenso bei den Kriegseinsätzen, beim War on Terror vom Afghanistan-Einsatz bis hin zur Mithilfe beim Irakkrieg. Wenn wir Informationen bekommen, dann in Form eines vollkommen inkonsistenten, viel zu niedrigen BodyCount. Da ist dann von ein paar Zehntausend Opfern die Rede. Wenn wir uns aber die wissenschaftlichen Daten anschauen, kommen wir auf eine Million zivile Tote, mindestens, durch den War on Terror allein im Irak, Afghanistan, Pakistan. Vor allem auch durch Drohnenkriege, durch schmutzige Kriege. Da wird enorm relativiert. Man stelle sich vor, der Holocaust würde mal schnell auf ein paar Hunderttausend Ermordete reduziert, was wäre da in Deutschland los? Die liberalen Medien sind immer sehr nah am Machtzentrum dran, sie gehören teilweise dazu, kooperieren mit den Eliten, sind in den gleichen Klubs. Das führt tendenziell zu einer systematischen Verzerrung der Information.

Wie könnte eine wahrhaftige Berichterstattung über die Flüchtlingsfrage aussehen?

Die Krise findet weiterhin in den Entwicklungsländern statt, im globalen Süden. Die Menschen sterben oder werden dort gefoltert. In Libyen haben wir Foltergefängnisse, das sind KZ-ähnliche Zustände. Indirekt ist das erwünscht, zwecks Abschreckung. Heribert Prantl hat mal gesagt: Wir schützen uns mit toten Flüchtlingen vor Flüchtlingen. Und um das den Deutschen erträglich zu machen, werden Bedrohungsszenarien entwickelt, dass wir überlastet sind, dass eine Migrationswelle droht, wenn wir nicht abschotten. Es gibt Alternativen dazu, die Journalisten sollten sie erzählen. Es gibt rationale Lösungen. Was nicht heißt, dass wir zehn Millionen Flüchtlinge hier aufnehmen und versorgen müssen. Aber es bedeutet, dass wir sehr viel mehr bezahlen müssen. Und dass wir sehr viel mehr als bisher aufnehmen müssen.

David Goeßmann. Die Erfindung der bedrohten Republik. Wie Flüchtlinge und Demokratie entsorgt werden. Das Neue Berlin, 2019, 466 Seiten, 18 Euro.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Nicaraguas bedrohte Medien

Die Diktatur des nicaraguanischen Präsidentenpaars Daniel Ortega und Rocio Murillo hat in den letzten Jahren immer mehr Journalist*innen ins Exil getrieben. Unter erschwerten Bedingungen berichten Menschen wie Lucía Pineda vom Nachrichtenkanal "100% Noticias" oder Wendy Quintero nun aus dem Ausland. Für diese Arbeit nehmen sie stellvertretend für viele andere am 26. November 2024 den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung entgegen.
mehr »

Österreich: Gefahr für die Pressefreiheit

In Österreich ist die extrem rechte FPÖ bei den Nationalratswahlen stärkste Kraft geworden. Noch ist keine zukünftige Koalition etabliert. Luis Paulitsch erklärt im Interview, welche Entwicklungen in der österreichischen Medienlandschaft zu erwarten sind, sollten die FPÖ und ihr Spitzenkandidat Herbert Kickl an der Regierung beteiligt werden. Paulitsch ist Jurist, Zeithistoriker und Medienethiker. Von 2019 bis 2024 war er Referent des Österreichischen Presserats, dem Selbstkontrollorgan der österreichischen Printmedien;  seit 2024 bei der Datum Stiftung für Journalismus und Demokratie.
mehr »

KI beinflusst Vielfalt in den Medien

Künstliche Intelligenz kann journalistische Texte in verschiedene Sprachen übersetzen und damit viel mehr Nutzer*innen ansprechen. Gleichzeitig kann sie aber auch Stereotype, die in diesen Texten enthalten sind, verfestigen. Gefahren und Chancen von KI-Anwendungen im Journalismus standen im Fokus der diesjährigen NxMedienkonferenz der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM), die sich für mehr Vielfalt in den Medien einsetzen.
mehr »

ARD & ZDF legen Verfassungsbeschwerde ein

Nachdem die Ministerpräsident*innen auf ihrer Jahreskonferenz Ende Oktober keinen Beschluss zur Anpassung des Rundfunkbeitrags ab 2025 fassten, haben heute ARD und ZDF Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingelegt. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di begrüßt die Initiative.
mehr »