Die klassische Einmann- Schlachterei

Erfahrungsaustausch von Journalistinnen und Journalisten an Anzeigenblättern

Überlange Arbeitszeiten, schlechte personelle und technische Ausstattung der Redaktionen, mickrige Honorare für Freie, frei ausgehandelte Gehälter bei Redaktionsmitgliedern, mangelhafte Ausbildung und oft fehlende soziale Absicherung – das sind Eckdaten eines bisher wenig beachteten journalistischen Arbeitsmarktes.

Die Rede ist von den mehr als 3600 Journalistinnen und Journalisten, die für eines der etwa 2500 Anzeigenblätter arbeiten. Zu einem zweitägigen Erfahrungsaustausch hatte deshalb die IG Medien geladen. Zehn Kolleginnen und Kollegen kamen. Immerhin. Denn die enorme Arbeitsbelastung läßt selbst am Wochenende kaum freie Zeit. Versorgen die Teilnehmer doch ungefähr eine halbe Million Leser mit lokalen Informationen – und natürlich mit Werbung.

Andrea (Namen geändert) ist seit 11 Jahren „mit Überzeugung dabei und macht für Mittwoch und Samstag ein lesernahes Blatt.“ Dafür stehen ihr im Quartal 25000 Mark, zwei feste Redakteure und drei Pauschalisten zur Verfügung. Aber: „Die wirtschaftliche Situation ist für Freie katastrophal“, betont Andrea. Ihr Vertrag ist frei ausgehandelt. Überhaupt: Von den Teilnehmern hat nur einer einen Vertrag für Tageszeitungsredakteure.

Seit 5 Jahren ist Sabine bei einem Anzeigenblatt, das nicht zu einem Tageszeitungsverlag gehört. Die am Mittwoch erscheinende Zeitung macht sie alleine, eine Vertretung gibt es nicht. Freie Mitarbeiter werden abgeworben. Mit 3000 Mark Monatsbudget und viel Elan versucht sie „mehr Hintergrund zu bieten, engagierter zu schreiben und möglichst einmal pro Woche einen Kommentar in der Zeitung zu haben.“Seit zweieinhalb Jahren ist der festangestellte Allein-Redakteur Peter bei der Wochenzeitung – Auflage 140000. Die Arbeit nennt er die „klassische Einmann-Schlachterei“. Wird die Zeitung am Lichtpult layoutet, ist der Arbeitstag schon mal mindestens 16 Stunden lang, und das Wochenende gehe auch oft für Termine drauf.Achim ist nach langer Arbeitslosigkeit seit einem Jahr beim Anzeigenblatt einer größeren Stadt. Mit einem Kollegen produziert er zwei Teilausgaben für 12 Stadtteile und Gemeinden. „Stolze“ 98 Mark Pauschalhonorar erhält Achim für jede Seite („16 Seiten sind es meistens pro Ausgabe“), die er zuhause recherchiert und am eigenen PC erstellt. Läppische 20 Mark stehen ihm pro Seite für freie Mitarbeiter zur Verfügung.

Alle wollen gute Leser-Blatt-Bindung

Horst Röper vom Dortmunder Formatt-Institut ist Kenner des Anzeigenblatt-Markts und nennt Zahlen. Der Gesamtumsatz der Anzeigenblätter lag nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Anzeigenblätter (BVDA) 1995 bei 2,9 Milliarden Mark. Die Gesamtauflage der Titel (1994 waren es 1333) betrug 1995 78 Millionen. Für die Tageszeitungsverlage, zehn Großverlage beherrschen über Töchter oder Mehrheitsbeteiligungen ein Drittel der gesamten Branche, sei das Anzeigenblatt-Geschäft ein lukrativer Markt. Während die meisten Blätter wöchentlich am Mittwoch oder Donnerstag auf den Markt kommen, sieht der Dortmunder Wissenschaftler und Journalist die Tendenz, daß immer mehr Anzeigenzeitungen am Sonntag erscheinen werden. Außerdem: Was in Skandinavien existiert, sei für Deutschland bereits geplant – die täglich erscheinende Anzeigenzeitung. Denn Anzeigenblätter, so Horst Röper, seien heute ein „wichtiges Beiboot“, ein strategisches Instrument für die Expansion der Verlage. Das Ziel: Abgrenzung oder Abschottung gegenüber Konkurrenten.

Die Redaktionen von Anzeigenblättern leisten dafür ganze Arbeit. Denn sie sind anspruchsvoll. Alle möchten eine gute Leser-Blatt-Bindung; kleine Leute, Sport und Kultur sollen im Blatt sein, Themen, wo „sonst keiner hingeht“. Die Anzeigenzeitung soll eine Ergänzung zur Tagespresse sein. Verbraucherthemen seien oft wegen der Anzeigenkunden heikel, berichtet Peter. Er habe mal Bauchschmerzen gehabt, weil er eine Diät-Story „aus dem Boden gestampft hat“.

Daß die Liebesmüh nicht umsonst zu sein scheint, belegen BVDA-Zahlen von 1994. Danach lesen 86 Prozent der Publika Anzeigenblätter, 75 Prozent regelmäßig. Der Anzeigenteil werde zu 25 und der redaktionelle Teil zu 18 Prozent genutzt. Nicht unbedeutend auch die Glaubwürdigkeit: Über zwei Drittel der Informationen halten die Leser für vertrauenswürdig und seriös. Daß diese wichtige journalistische Arbeit bisher tarifvertraglich nicht abgesichert ist, wurde von allen Teilnehmern beklagt. Rosige Zeiten für eine bessere Situation sind nicht in Sicht. Dennoch gibt es Hoffnung: Die Lokalfunker haben es vorgemacht.

 

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Neues vom Deutschlandfunk

Auch beim Deutschlandfunk wird an einer Programmreform gearbeitet. Es gehe etwa darum, „vertiefte Information und Hintergrund“ weiter auszubauen sowie „Radio und digitale Produkte zusammen zu denken“, erklärte ein Sprecher des Deutschlandradios auf Nachfrage. Damit wolle man auch „auf veränderte Hörgewohnheiten“ reagieren.
mehr »

Nicaraguas bedrohte Medien

Die Diktatur des nicaraguanischen Präsidentenpaars Daniel Ortega und Rocio Murillo hat in den letzten Jahren immer mehr Journalist*innen ins Exil getrieben. Unter erschwerten Bedingungen berichten Menschen wie Lucía Pineda vom Nachrichtenkanal "100% Noticias" oder Wendy Quintero nun aus dem Ausland. Für diese Arbeit nehmen sie stellvertretend für viele andere am 26. November 2024 den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung entgegen.
mehr »

Österreich: Gefahr für die Pressefreiheit

In Österreich ist die extrem rechte FPÖ bei den Nationalratswahlen stärkste Kraft geworden. Noch ist keine zukünftige Koalition etabliert. Luis Paulitsch erklärt im Interview, welche Entwicklungen in der österreichischen Medienlandschaft zu erwarten sind, sollten die FPÖ und ihr Spitzenkandidat Herbert Kickl an der Regierung beteiligt werden. Paulitsch ist Jurist, Zeithistoriker und Medienethiker. Von 2019 bis 2024 war er Referent des Österreichischen Presserats, dem Selbstkontrollorgan der österreichischen Printmedien;  seit 2024 bei der Datum Stiftung für Journalismus und Demokratie.
mehr »

KI beinflusst Vielfalt in den Medien

Künstliche Intelligenz kann journalistische Texte in verschiedene Sprachen übersetzen und damit viel mehr Nutzer*innen ansprechen. Gleichzeitig kann sie aber auch Stereotype, die in diesen Texten enthalten sind, verfestigen. Gefahren und Chancen von KI-Anwendungen im Journalismus standen im Fokus der diesjährigen NxMedienkonferenz der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM), die sich für mehr Vielfalt in den Medien einsetzen.
mehr »