Ausbildung in der journalistischen Königsdisziplin Reportage
Reportagen schreiben kann man eben – oder nicht, eine vielfach verbreitete Meinung. Bei der Reportage, so die Vermutung, kommt es an auf angeborenes Sprachgefühl, individuelle Eindrücke, einen persönlichen Stil. Regeln gibt es kaum. Eine gute Reportage ist ein Stück Literatur, ein Kunstwerk, das man nur aus sich heraus begreifen kann!
Der Genie-Kult um die journalistische Königsdisziplin beeindruckte die schwäbische Reportageagentur Zeitenspiegel nicht, als sie vor drei Jahren in Reutlingen die erste Reportageschule Deutschlands gründete. Nach ihrem Verständnis ist die Reportage ein „Stück Handwerk“, wie der Fotograf und Agentur-Gründer Uli Reinhardt im Unterricht betonte. Ein Format, das spannende Geschichten möglichst nah am Menschen erzählt. Ein Genre, das dem Bedürfnis der Vertiefung entspricht, ungeachtet von journalistischer Schnelllebigkeit. Und letztlich: Eine Form, die man erlernen kann – wie ein Handwerk eben.
Spannende Geschichten vor der Tür
Das Programm der Reportageschule auf eine Formel gebracht lautet: Viel Praxis, wenig Theorie. Denn die spannendsten Geschichten spielen draußen vor der Tür, nicht hinter mit Papierkram überladenen Redaktionstischen. „Deshalb haben uns die Dozenten vor allem auf das Leben als freie Journalisten vorbereitet, nicht wie andere Schulen auf einen Redakteurs-Job“, sagt Ulf Schubert, einer der Absolventen. Verständlich, dass die Dozenten aus dem Beruf, nicht aus dem Hörsaal kommen: Neben dem Zeitenspiegel-Team unterrichten Autoren von Spiegel, Stern und Zeit wie Alexander Smoltzcyk, Barbara Supp, Arno Luik oder Harald Martenstein. Sie erklären den Aufbau einer Wochenendbeilage oder die Gestaltung des Rechercheplans, dozieren über Themenfindung und elegantes Schreiben. Die Schüler dürfen nicht ausruhen, sie müssen mitmachen: Übungstexte werden zwischen Reutlingen, Stuttgart und der Schwäbischen Alb recherchiert, geschrieben und redigiert. Damit die Absolventen ebenfalls wissen, wie man einen Dreispalter, eine Meldung oder einen Gerichtsbericht schreibt, besuchen auch erfahrene Journalismus-Didaktiker wie Ingrid Kolb die schwäbische Provinz: Die ehemalige Leiterin der Hamburger Henri-Nannen-Schule engagiert sich seit zwei Jahren als Dozentin und Kuratorin an der Schule.
Planen, schreiben, verkaufen
Die Schulleitung erwartet, dass ihre Reportageschüler während des Lehrgangs mindestens eine Auslands-Reportage schreiben. Das gelingt am besten gemeinsam: Jedes Jahr gehen die Schüler eine Woche lang auf Europa-Reise. Für viele Reporter gehören solche Auslands-Recherchen zum Tagesgeschäft: Die Nachwuchs-Journalisten sollen sich daran gewöhnen, in fremder Umgebung und fremder Sprache zu arbeiten. „Dabei ist es im Grunde unwichtig, ob eine Geschichte in Islamabad, Bali oder Heiligendamm spielt“, sagt Schubert. „Planen, schreiben, verkaufen – das müssen freie Journalisten können, das habe ich bei Zeitenspiegel gelernt.“
Natürlich: Nach zwölf Monaten Unterricht, diversen Praktika und der Konzeption einer Abschlussarbeit, dem Reportagemagazin GO, bleiben Fragen der Ungewissheit. Was hat es wirklich gebracht? Wie werde ich in Zukunft arbeiten? Konnten die Dozenten genügend Erfahrungen und Branchen-Kontakte vermitteln, um ihre Schüler auf ein Leben im Haifischbecken des freien Journalismus vorzubereiten? Fakt ist: Nahezu alle zehn Absolventen des letzten Jahrgangs haben den Einstieg geschafft, arbeiten (wie der Autor) als Journalisten und Reporter, unter anderem für Brand Eins, Mare, Stern, Tagesspiegel, Taz und die Stuttgarter Zeitung. Carsten Stormer, Absolvent des ersten Jahrgangs, rückte im August sogar in die Stammbesatzung von Zeitenspiegel auf. Heller kann der Lichtstreif in einer dunklen Medien-Krise kaum sein.