Fahrrad und Gummistiefel

Die Redakteure der „Sächsischen Zeitung“ müssen unter provisorischen Bedingungen arbeiten

Die folgende Reportage erschien am 19. August 2002 auf der Medienseite der „Berliner Zeitung“.

Ende August war die Elbmetropole Dresden von dem, was man Normalität nennt, noch weit entfernt. In einigen Stadtteilen gab es noch keine einwandfreie Wasserversorgung, Telefonleitungen funktionierten noch nicht überall. Aber in der gesamten Stadt hatten die Aufräumarbeiten begonnen. Auch das Haus der Presse – Sitz der „Sächsischen Zeitung“ – und die „Dresdner Morgenpost“ waren völlig geflutet worden. Zunächst sollte das Verlagshaus wieder in Besitz genommen werden. Per Internet informierte die Geschäftsleitung die Mitarbeiter am 24. August: „Heute beginnen die ersten Abteilungen mit dem Wiedereinzug in die Ostra-Allee. Dabei handelt es sich um die Anzeigenabteilung, die Vorstufe und die Bildbearbeitung. Die Anzeigenabteilung und die Vorstufe werden im Kopfgebäude untergebracht, das über Notstromaggregate mit Energie versorgt wird. Die Bildbearbeitung bezieht Ihre angestammten Räume im Haus der Presse, die ebenfalls notversorgt werden. …

Das Haus der Presse und das Morgenpost-Gebäude sind weiterhin von der öffentlichen Stromversorgung abgeschnitten, daher ist eine Rückkehr in diese Büros voraussichtlich erst in der nächsten Woche möglich. Wir bitten alle betroffenen Kolleginnen und Kollegen, sich weiter zu Hause zur Verfügung zu halten und telefonisch mit ihren Vorgesetzten in Kontakt zu bleiben.

Sobald es weitere Neuigkeiten gibt, werden wir Sie über Ihre direkten Vorgesetzten und zusätzlich über unser Internetportal www.sz-online.de umgehend informieren.“ Noch vor dem Aufruf an alle Kolleginnen und Kollegen, sich an den Aufräumarbeiten zu beteiligen, vergaß die Geschäftleitung nicht, „allen ganz herzlich für Ihre Unterstützung und das große Engagement, mit dem Sie trotz der gegenwärtig schwierigen Umstände hervorragende Arbeit leisten“, zu danken.

Am Sonntag gab es die erste gute Nachricht seit Tagen: Das Wasser geht zurück und steht jetzt nur noch im Keller. Am Freitag war das Dresdner Haus der Presse, ein zwölfstöckiger Bau an der Elbe, zum zweiten Mal geflutet worden. Obwohl das Redaktionssystem und die Telefonanlage zerstört sind, ist die „Sächsische Zeitung“ jeden Tag erschienen – wenn auch mit reduziertem Umfang und schwarz-weißen Bildern. Produziert wurde sie in provisorischen Räumen in Meißen, Pirna, Freital, in dem Büro der Druckerei, das sich in einem höher gelegenen Stadtteil Dresdens befindet und in Bautzen, wo sich die Chefredaktion und die überregionalen Ressorts eingerichtet haben.

Notausgabe mit mehr Service

Am heutigen Montag (19.8. red.) erscheint die bisher dickste Notausgabe der „SZ“ – 32 Seiten. „Das ist die Chronik über die schlimmsten Stunden, die Dresden seit dem Krieg erlebt hat“, sagt Chefredakteur Hans Eggert. „Wir machen hier eine historische Zeitung – die werden die Familien für 20 Jahre aufheben.“ Neben den Berichten über die Flut und das Leid, das sie hinterließ, wird der Serviceteil verstärkt. Umleitungen werden beschrieben, weil viele Straßen im Osterzgebirge nicht mehr existieren. Auf den Ratgeberseiten erfahren die Leser, was sie tun können, wenn ihr Keller voll Wasser ist oder wenn für chronisch Kranke die Medizin zu Ende geht.

Dass die Zeitung bisher jeden Tag herauskommen konnte, ist auch einem Zufall zu verdanken. Der geschäftsführende Redakteur Thomas Bärsch erzählt: „Wir hatten Glück, dass die gedankliche Vorarbeit für den Notfall schon da war, Bautzen schon als Produktionsstandort feststand.“ Ein Alarmplan existierte, seit im Frühjahr auf einer benachbarten Baustelle in Dresden Bomben gefunden wurden. Dass es allerdings einmal ganze Lokalredaktionen nicht mehr geben würde – wie in Pirna und in Radebeul – das hätte damals keiner geglaubt.

Am Tag eins der Jahrhundertflut war es schwierig, überhaupt alle Redakteure zu erreichen. Doch je länger der Ausnahmezustand dauert, desto besser funktioniert auch die Produktion der Zeitung. Allerdings kann sich die Lage jeden Moment ändern. Wie viele Seiten erscheinen, hängt von der Technik ab. Obwohl die Druckerei auf dem Trockenen steht, kann es passieren, dass der Strom ausfällt oder die provisorisch zusammengebastelten Datenleitungen nicht mehr funktionieren. Die Übertragung der Seiten von Bautzen nach Dresden ist schwierig, die Kapazität begrenzt. Die Techniker arbeiten Tag und Nacht.

Am Sonnabend erschien die „SZ“ zum ersten Mal seit der Flut wieder mit einem Farbbild auf dem Titel. Hans Eggert hofft, ab Dienstag wenigstens wieder eine Seite pro Lokalausgabe auswechseln zu können. Bisher lesen die Menschen zwischen Zittau und Riesa alle die gleiche Zeitung. Dabei ist das Verbreitungsgebiet geteilt – in Hochwasserkreise im Westen und Nicht-Hochwasserkreise im Osten. Das macht einerseits die Lage überschaubar. Auf der anderen Seite stehen die Befindlichkeiten der Leser. Wer will schon etwas über ein Stadtfest in Zittau lesen, wenn er gerade sein Wohnzimmer davonschwimmen sah?

Stadtpläne helfen nicht

Während sich die Redakteure in Bautzen damit beschäftigen, die Produktion zu koordinieren, haben die Reporter vor Ort mit sich selbst zu tun. Nichts ist mehr, wie es war. Die Ausrüstung der Journalisten: Gummistiefel, Fahrrad und Handy. Claudia Schade, eine der Reporterinnen der Stadtredaktion Dresden, musste sich erst mal ein Fahrrad besorgen. Viele Gebiete sind mit dem Auto nicht mehr erreichbar, obwohl der Pegel langsam sinkt. „Ich hatte den Auftrag, nach Übigau zu fahren“, sagt die 30-Jährige. Dort habe die Überflutung eines riesigen Stadtteils gedroht, von Dammbrüchen sei die Rede gewesen.

Stadtpläne helfen bei der Routenplanung nur noch wenig. Nicht der kürzeste, sondern der sicherste Weg ist gefragt. Deshalb können die Journalisten nur eins tun: Losfahren, mit Kollegen telefonieren, hoffen, dass sie auch wieder zurückkommen. Die Arbeit wird für viele zur Therapie. „Ich weiß zwar nicht, ob ich meine Texte auch in der Zeitung unterbringen kann“, sagt Claudia Schade. „Doch so hab ich wenigstens das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.“ Erst abends, wenn der Stress vorbei ist, komme sie ins Nachdenken. „Dann fällt alles ab.“ Besonders getroffen hat sie die Evakuierung des Krankenhauses, neben dem sie wohnt: die schwer kranken Menschen in rollenden Betten, daneben Soldaten, die Sand schaufeln.

Am Sonnabend um fünf Uhr morgens hatte sie einen Termin mit einem der Zeitungszusteller. Sie sollte darüber schreiben, wie die Boten mit der „Sächsischen Zeitung“ – in vielen Fällen die einzige Informationsquelle – zu den Lesern in Dresden kommen. Dafür musste sie über eine der Elbbrücken auf die Altstadtseite. „Das war gespenstisch, alles war dunkel, unter mir die Wassermassen, und du denkst, jeden Moment kracht die Brücke zusammen.“ Auch die Bilder auf der anderen Elbseite jagten ihr Schauer über den Rücken. Das Wasser sprudelte in Strömen aus der Kanalisation, Straßen waren überflutet, Motorboote an Straßenschildern festgebunden. Und immer wieder die Angst, selbst eingeschlossen zu werden. Die Dämme aus Sandsäcken können jederzeit brechen und den Rückweg abschneiden.

Auch hartgesottene Fotografen lässt das Elend nicht kalt. „Es fällt mir wirklich schwer, emotionslos über das alles zu sprechen“, sagt Jürgen Lösel. Er war gerade in Pirna und dem Erzgebirge unterwegs, um Fotos zu machen. Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit geben die Digitalkameras bei manchen Einsätzen ihren Geist auf. So liegen die Nerven blank in den Hochwassergebieten, nicht nur bei den Einsatzkräften und den Betroffenen, sondern eben auch bei Journalisten.

Überlastete Netze

„Wir müssen unbedingt diese Woche Leute auswechseln“, sagt Thomas Bärsch. „Einige arbeiten hier rund um die Uhr, die brauchen mal eine Pause.“ Doch einige Mitarbeiter kann er nicht auswechseln. Besonders die Kollegen in den Lokalredaktionen sind jetzt wichtig. Vor allem dann, wenn wieder einmal ein Gerücht die Runde macht. „Wir haben den Vorteil, dass wir unsere Leute vor Ort anrufen und fragen können, was wirklich los ist“, sagt Bärsch. Natürlich nur, wenn die Mobilfunknetze nicht überlastet sind, und die Kollegen irgendeine andere Möglichkeit gefunden haben, mit der Zentrale in Bautzen Kontakt aufzunehmen. Wie dann die Texte dorthin kommen, ist die nächste Frage. Zur Not telefonisch – von einem der wenigen Festnetzanschlüsse, die in manchen Gegenden noch übrig geblieben sind.

Wann die Redaktion wieder ins Haus der Presse ziehen wird, weiß keiner. Chefredakteur Eggert: „Wir müssen warten, was die Baufachleute sagen, ich hoffe, wir können Ende der Woche rein.“ Inzwischen, so erzählen diejenigen, die dort waren, verwandle sich der Betonbau in ein Treibhaus. Die Sonne scheint, die Fenster sind geschlossen, die Feuchtigkeit zieht aus den unteren Etagen nach oben. Es wird noch dauern, bis normales Arbeiten wieder möglich ist.


 

Gewerkschafter helfen

Der DGB hat für die Opfer der Flutkatastrophe ein zentrales Spendenkonto eröffnet:

Konto 1 000 200 607
SEB Bank AG Düsseldorf
BLZ 300 10 111
Sonderkonto: „Gewerkschafter helfen“

Wer über ver.di direkt für betroffene Künstler spenden will:

Konto 621 42 66
Commerzbank
BLZ 120 40 000
Stichwort: Fluthilfe Medien und Kunst

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