Frei schwebend in die Rente?

ver.di-Reformvorschlag zur Alterssicherung Selbständiger in der Diskussion

Genügend Schattenseiten hält die von vielen freiwillig, von nicht wenigen aber notgedrungenermaßen gewählte berufliche Selbständigkeit bereit. Freiberufler, gern auch als Solo-Selbständige betitelt, nähern sich mehr oder weniger frei schwebend der Rente.

Jeder siebente Selbständige verfügte 1998 über keinerlei Altersabsicherung. Diese vom Zentrum für Sozialpolitik der Uni Bremen herausgefundene alarmierende Zahl geht mit der Auswertung des 2000 gestarteten ver.di Beratungsprojektes media fon konform. Dort machten Fragen der sozialen Sicherung, vor allem der fürs Alter, mit Abstand das Hauptproblemfeld aus. 66 Prozent der Befragten nannten das als stärkste Belastung, 22 Prozent verfügten weder über eine Renten- noch Lebensversicherung, geschweige denn über Vermögen.

Geld sparen ist Illusion

Olaf Spiers, seit 1993 frei schaffender Künstler, verheiratet, zwei Kinder, steht mit seinem Beispiel für viele. Der 35jährige hat sich schon ausrechnen lassen, was die meisten erst ein Vierteljahrhundert später interessiert. Mit einem schwankenden, oft nur im vierstelligen Bereich liegenden Jahreseinkommen und regelmäßigen KSK-Zahlungen hat er sich eine Rentenanwartschaft von monatlich 102 Euro erworben. Ginge alles so weiter, dürfte er sich im 65. Lebensjahr an einer Rente von 336 Euro im Monat erfreuen. „Ohne KSK wäre es noch weniger,“ sagt Spiers. Vermögensaufbau sei bei Insolvenzen von Auftraggebern oder persönlichen Schicksalsschlägen eine Illusion. „Im Gegenteil, ich musste Rücklagen auflösen.“

Akuter Handlungsbedarf nach Studie von mediafon

30 000 gewerkschaftlich organisierte Solo-Selbständige – in ver.di inzwischen eine bunt gemischte, nicht nur aus dem Medienbereich stammende Gruppe – sind ein starkes Argument, mit Nachdruck aktiv zu werden. Das ver.di-Projekt mediafon hat in Bremen eine Studie in Auftrag gegeben und stellt einen Reformvorschlag zur Alterssicherung zur Diskussion. „Erhebliche Lücken müssen geschlossen werden.“ Gunter Haake, ver.di-Referent für Selbständige und mediafon-Projektleiter sieht akuten Handlungsbedarf. Fast überall in Westeuropa, so in Österreich oder der Schweiz, sei die Existenzsicherung für Selbständige geregelt. „Sie in Deutschland in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen, ist ein Gebot der Zeit.“

Auch Sozialwissenschaftlerin Dr. Sigrid Betzelt aus Bremen sieht angesichts des rasanten Strukturwandels seit Beginn der 90er Jahre dringenden Reformbedarf. Solo-Selbständige machten mit 1,82 Mio bereits mehr als die Hälfte der Selbständigkeit in Deutschland insgesamt aus. In der Regel zählen sie zu den unteren Einkommensklassen, mehr als zwei Drittel verfügt über weniger als 1 500 Euro monatlich netto, wobei Frauen noch weniger im Portemonnaie vorfinden.

Das von Betzelt und ihrem Kollegen Dr. Uwe Fachinger Ende Januar auf einer ver.di Tagung in Berlin vorgelegte Konzept benennt Eckpunkte, erörtert verschiedene Modelle und macht teils komplizierte Rechenoperationen auf. Danach sollen alle Selbständigen innerhalb der Rentenversicherung in ein Pflichtversorgungssystem einbezogen und gegen Altersarmut abgesichert werden. Beitragsreduzierungen für Existenzgründer, geteilte Beitragslast, die Wahl zwischen festem Regelbeitrag oder einkommensgerechten Beitragszahlungen seien denkbar. Die KSK könne als Vorbild dienen. Finanzierungsvarianten werden erörtert – vor allem die allgemeine Steuerfinanzierung und die Kostenbeteiligung aller Unternehmen durch umsatzbezogene Sozialabgaben. „Soziales Schutzbedürfnis besteht für alle, nicht nur für abhängig Beschäftigte und einige Sondergruppen. Die gesetzliche Rentenversicherung sollte hier für Gleichbehandlung aller Erwerbstätigen sorgen und alle Leistungen einbeziehen,“ verteidigt Betzelt die in Zeiten der Rezession kühnen Ideen. „Problembewusstsein muss geschaffen werden.“ Das bestehende Sicherungssystem auszudehnen, erscheint den Sozialwissenschaftlern weniger risikoanfällig, als auf private Kapitalbildung zu setzen. „Freiwillige Vorsorge reicht nicht aus.“ Lösungen seien kurzfristig möglich, ein eigener Versicherungszweig unnötig.

Ignoranz als Phänomen

„Wir wollen Signale senden,“ meint Veronika Mirschel, ver.di-Referentin für Selbständige. Es sei ein Phänomen, dass diese wachsende Gruppe von der Politik so wenig beachtet werde. „Wenn Selbständigkeit politisch gewollt ist, muss sie auch abgesichert werden.“ ver.di werde sich hier mit aller Kraft in die Bresche schlagen.

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Wie ethisch kann KI berichten?

Ein ethischer Kompass ist angesichts zunehmender Desinformation immer wichtiger – für Journalist*innen, aber auch Mediennutzende. Positivbeispiele einer wertebewussten Berichterstattung wurden jüngst zum 20. Mal mit dem Medienethik Award, kurz META, ausgezeichnet. Eine Jury aus Studierenden der Stuttgarter Hochschule der Medien HdM vergab den Preis diesmal für zwei Beiträge zum Thema „Roboter“: Ein Radiostück zu Maschinen und Empathie und einen Fernsehfilm zu KI im Krieg.
mehr »

VR-Formate im Dokumentarfilm

Mit klassischen Dokumentationen ein junges Publikum zu erreichen, das ist nicht einfach. Mit welchen Ideen es aber dennoch gelingen kann, das stand auf der Sunny Side of the Doc in La Rochelle im Fokus. Beim internationalen Treffen der Dokumentarfilmbranche ging es diesmal auch um neue Erzählformen des Genres wie Virtual Reality (VR).
mehr »

krassmedial: Diskurse gestalten

Besonders auf Social-Media-Plattformen wie TikTok und Telegram verbreiten sich rechtsextreme Narrative, die zur Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Wie Journalist*innen dem entgegen wirken und antidemokratische Diskursräume zurückgewinnen können, diskutierten und erprobten etwa 70 Teilnehmende der diesjährigen #krassmedial-Sommerakademie von ver.di am Wochenende in Berlin-Wannsee.
mehr »

KI-Bots: Kompletten Schutz gibt es nicht

KI-Bots durchstreifen das Netz, „scrapen“, also sammeln dabei auch journalistische Inhalte, um damit KI-Modelle wie Chat GPT zu trainieren. Welche technischen Maßnahmen können Journalist*innen ergreifen, um ihren Content zu schützen? Tipps des KI-Beraters Branko Trebsche.
mehr »