Meine Tante besitzt Aktien …
Redaktionskonferenz in einer Berliner Regionalzeitung. Die News des Tages: T-Online und Comdirect planen eine neuartige Zusammenarbeit beim Onlinebanking. Erwartungsfroh blickt der Chefredakteur den Wirtschaftschef an: „Titelstory, Hintergrund, Interviews?“
„Nun“, antwortet dieser, „mal sehen, was die Agenturen so liefern ….“ „Die Agenturen?“ „Nun ja“, so der Ressortleiter, „seit den neuen Standesregeln, sind mir etwas die Hände gebunden. Kollege Müller, der für die New Economy und High Tech zuständig ist, besitzt leider Aktien der Commerzbank und kann deshalb nicht schreiben. Bankenexpertin Schmitt ist seit Jahren Telekomaktionärin und weigert sich hartnäckig, gerade jetzt zu verkaufen.
“ „Gut und schön“, so der Chefredakteur, „aber wir haben doch gerade erst ihre Redaktion auf sechs Mann aufgestockt. Was ist mit Schulze?“ „Schulze hat leider eine Tante mit T-Online-Aktien. Das ist durch den Verwandtschaftsparagraphen ausgeschlossen.“ „Dann eben Frau Meier. Die haben wir doch extra für viel Geld bei der Konkurrenz abgeworben.“ „Bei ihr prüft die Rechtsabteilung, ob das Ganze irgendwie ihre Amazon-Aktien tangiert.“ „Na gut. Wie wäre es dann mit Ihnen selbst?“ „Ich habe VW-Aktien.“ „VW-Aktien?“ „Ja, VW besitzt mittlerweile eine eigene Onlinebank. Außerdem verkaufen die demnächst Autos online. Und da war sich die Rechtsabteilung auch nicht so ganz sicher ….
“ Reichlich genervt wendet sich der Chefredakteur ab. „Schauen wir halt mal zum Sport. Hertha steht im Endspiel der Champions League gegen Paris St. Germain. Was haben wir da?“ Irgendwie schaut nun auch der Sportchef etwas betreten. „Hängt davon ab, was der Personalleiter mir morgen an neuen Mitarbeitern präsentiert.“ „Neue Mitarbeiter?“ „Ja. Nachdem sich damals die Wirtschaftskollegen beschwert hatten, wurden die Standesregeln doch letzte Woche auch auf uns ausgeweitet. Wegen der zunehmenden Verquickung von Sport und Wirtschaft …“. „Und jetzt können Sie nicht mehr über Hertha berichten?“ „Ja. Kollege Schramm hat Aktien der Kirch-Gruppe.“ „Aber das Spiel wird doch auf RTL übertragen.“ „Ja, aber Bertelsmann ist an Hertha beteiligt. Und Kirch ist ein Konkurrent von Bertelsmann.“ „Und wenn Sie selbst sich auf den Weg machen würden?“ „Ich habe Aktien von Vivendi.“ „Vivendi?“ „Das ist der Mutterkonzern von Paris St. Germain ….“
Eigentlich wollte der Chefredakteur an dieser Stelle mit dem Feuilleton weiter machen. Doch da fiel ihm ein, dass er den Kulturchef gerade nach den Sonderseiten zum entschlüsselten Genom entlassen hatte. Er besaß Biotech-Aktien …