Götterdämmerung mit Lokalkolorit

Lokaler Journalismus wird im brancheninternen Ranking vielfach unterschätzt. Dabei sind gerade lokale Medien näher dran an ihren Lesern und Usern als die angesehenen überregionalen Flaggschiffe der hiesigen Publizistik.
Aber wie gut vorbereitet sind Lokal- und Regionalzeitungen eigentlich auf die Digitalisierung des Journalismus? Eine Bestandsaufnahme versuchte das 22. Forum Lokaljournalismus” in Bayreuth unter der Losung „Götterdämmerung – Der Lokaljournalismus erfindet sich neu”. Organisiert wurde die dreitägige Tagung vom Projektteam Lokaljournalisten und der Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit dem Nordbayerischen Kurier.

Diskussion um die aktuelle Relevanz des Lokaljournalismus in Bayreuth: (v.l.) Jörg Jung, Böhme Zeitung; Sylvia Binner, Moderatorin; Björn Schmidt, DuMont Net; Christian Stavik, Faedrelansvennen und Horst Seidenfaden, HNA Foto: Ronald Wittek

„Wir müssen uns von der Vorstellung der Zeitung als gedrucktes Produkt freimachen.” Mit dieser provokativen These gab Michael Rümmele, Geschäftsführer des gastgebenden Nordbayerischer Kurier, schon zu Beginn des Forums die Richtung der Debatten vor. Und er legte nach: „In 15, 20 Jahren wird es die Zeitung als gedrucktes Medium nicht mehr geben.” Heute schon nutzten zwei Drittel der Leser digitale Informationsquellen. Zu Panik bestehe dennoch kein Anlass. Denn gut gemachter Journalismus werde dadurch keineswegs überflüssig. Gerade im digitalen Zeitalter falle ihm die Aufgabe zu, komplexe Dinge zu erklären, unabhängig vom Verbreitungsweg.

Im nördlichen Europa ist diese Erkenntnis offenbar in der Branche schon weiter fortgeschritten als hierzulande. Für Christian

Christian Stavik aus Norwegen Foto: Ronald Wittek
Christian Stavik aus Norwegen
Foto: Ronald Wittek

Stavik, Digital-Chef der norwegischen Tageszeitung Faedrelansvennen, ist die Losung „Online First” längst selbstverständliche Notwendigkeit. Viele Redaktionen hätten das allerdings noch nicht begriffen. Aus einer alten Denke heraus begingen sie immer noch den zentralen Fehler, exklusive Geschichten zuerst in die gedruckte Ausgabe zu rücken und nicht sofort online zu stellen. Stavik: „Was machen Ihre Wettbewerber und die sozialen Medien? Sie greifen sich Ihre Geschichte, diskutieren Ihre Geschichte – nur eine Zeitung hat die Geschichte nicht im Netz: die, die sie kreiert hat. Das kann ja nur eine falsche Strategie sein.”
Seine Zeitung, die zum Schibsted-Konzern gehört, habe 2012 online ein Bezahlmodell eingeführt, und zwar in der Freemium-Variante. Dabei entscheidet die Redaktion, welche Inhalte frei und welche hinter einer Paywall sind. Hauptintention sei gewesen, den Lesern einen zusätzlichen Nutzwert zu bieten. Was interessiert die Abonnenten besonders? „Lokale Breaking News, Fußball, Verkehrsnachrichten”. Vor der Einführung habe man fünf Kunden pro Tag verloren. Danach habe der Negativtrend gestoppt werden können. Das Freemium-Modell erfordere allerdings eine „starke Umstrukturierung der Redaktion”. Vor dem Relaunch hätten rund 70 Prozent der Redakteure für Online und Print geschrieben. Mittlerweile seien es 100 Prozent. Gleiches gelte auch für das Engagement in sozialen Netzwerken. Den Redakteuren sei es „nicht erlaubt, n i c h t auf Facebook zu sein”, stellte Stavik klar. Der Facebook-Kanal der Zeitung als wichtigstes Instrument, mit dem Leser zu kommunizieren, werde rund um die Uhr betreut.

Aktuelle News in Echtzeit.

Die Zeichen der Zeit erkannt hat man auch bei der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen. Nach positiven Erfahrungen beim letztjährigen Hessentag startete vor fünf Monaten das Projekt „Kassel Live”. Über die Online-Plattform Tumblr würden alle aktuellen News in Echtzeit eingespeist, erläuterte HNA-Online-Chef Jens Nähler: „Wir wollen damit einen Nachrichtenstream erzeugen und alles Relevante, was mit der Stadt Kassel zu tun hat, veröffentlichen.” Relevant sei nicht nur das, was von den Journalisten so empfunden werde. „Relevant ist, was der Nutzer haben möchte.”
Immer mehr User, so seine Erfahrung, kämen mobil auf die HNA-Seiten, per Handy oder Tablet. Auch das Engagement von Leserreportern sei erwünscht. „Man kann über eine einfache App von unterwegs was posten”, vom Stau über den Verkehrsunfall bis hin zu Schnappschüssen im Nahbereich. Die Nutzer erwarteten einen Mix aus Nachrichten und Unterhaltung. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Allein im vergangenen Dezember habe „Kassel Live” knapp 200.000 Aufrufe erzielt, davon ein gutes Viertel mit mobilen Endgeräten. Für HNA-Chefredakteur Horst Seidenfaden ein ermutigender Start, zumal die Werte „kontinuierlich nach oben” gehen. Redaktionsschluss um 18:30 Uhr? No way, bei Kassel Live gibt es sowas im Prinzip nicht mehr.
Auch beim Nordbayerischen Kurier in Bayreuth gehört Live-Blogging mehr und mehr zum täglichen Handwerk. Jeder ist für alles zuständig, will sagen: Wer aus der Stadtratssitzung berichtet, sollte möglichst Zwischenergebnisse per Tweet absetzen. Als Tool nutze die Redaktion das in die eigene Homepage eingebundene „Scribble Live”, sagt Kurier-Chefredakteur Joachim Braun (Interview S. 12). Nicht alle Redaktionsmitglieder würden sofort begeistert die neuen digitalen Herausforderungen annehmen, schränkt Braun ein. Die Redaktionsspitze lebe das aber vor. Um den nicht unbeträchtlichen zeitlichen Aufwand zu kompensieren, habe man sich „vom Terminjournalismus weitgehend verabschiedet”. Die Vereinsberichterstattung als hartes Brot jeder Lokalredaktion wurde beim Kurier in eine wöchentliche Beilage ausgegliedert.
Beispiele für „Visual Storytelling” als digitale Erzählform im Lokalen präsentierte Bernhard Rentsch, Chefredakteur des Schweizerischen Bieler Tagblatt. „Wir versuchen, unseren Lesern die Botschaften vorwiegend mit Bildern zu vermitteln – sei es mit Fotos oder mit Grafiken”, sagte Rentsch. Die Regel laute: ein großes Bild pro Aufmacherthema. Potentielle Themen sind (umstrittene) kommunale Bauprojekte, wichtige stadthistorische Ereignisse oder auch gesellschaftspolitische Fragen wie Arbeitsmigration. Die Aufbereitung solcher Projekte nehme im Schnitt zwei bis drei Wochen in Anspruch. „Wenn wir aus Platzmangel zwischen Text und Grafik zu entscheiden haben, setzen wir im Zweifel immer auf das Bild.”
Neue Wege gehen auch die Dortmunder Ruhr-Nachrichten (RN). Deren Redaktion setzt seit drei Jahren das Instrument des Datenjournalismus in der kommunalen Berichterstattung ein. „Datenjournalismus muss digital und interaktiv sein, die Quellen müssen transparent und die Daten frei verfügbar sein”, so das Credo von Philip Ostrop, Dortmunder Lokalchef der Ruhr-Nachrichten. Angefangen habe man mit Grafiken, die die Verteilung der Arbeitslosigkeit oder der Kriminalität in der Stadt plastisch darstellten. Zur Verarbeitung nutzen die Dortmunder zwei Tools: Datenwrapper, ein laut Ostrop „kostenloses und idiotensicheres Instrument” und das etwas anspruchsvollere Google Fusion Tables.

Spezielle Recherche.

Überraschende Erkenntnisse erbrachte bei den RN ein Projekt über den Ausbau des lokalen Mobilfunknetzes. Dabei wurden auf einer Karte alle Mobilfunkmasten in der Region eingezeichnet. In einem Extrakasten konnten die Nutzer ihre Adresse eintippen und überprüfen, wo in der Nachbarschaft der nächste Mobilfunkmast steht. Was als kleiner Service für die Leser gedacht war, führte zu einer unerwarteten Erkenntnis. „Nachdem wir die Daten auf die Karte projiziert hatten, fiel uns auf, dass es mittlerweile Mobilfunkmasten gibt, die ziemlich nah an Schulen, an Kindergärten, an Krankenhäusern stehen”, erläutert Ostrop. Gemeint ist eine freiwillig zwischen Mobilfunkunternehmen und Stadt vereinbarte spezielle Pufferzone für die Aufstellung von Mobilfunkmasten, mit dem Ziel, die Bevölkerung vor Strahlenbelastung zu schützen. „Durch unsere Visualisierung fanden wir heraus, dass diese Pufferzone mittlerweile unterschritten wird.” Mithilfe der speziellen Recherche sei es also gelungen, eine gesundheitspolitisch brisante Angelegenheit zu thematisieren. Wermutstropfen bei der Geschichte: Das bedenkliche Ergebnis löste wider Erwarten in der Bevölkerung kaum Betroffenheit aus. Ein Abstumpfungseffekt?
Einen originellen Ansatz für investigative Berichterstattung im Lokalen lieferte Jörg Jung, Chefredakteur der Böhme Zeitung in Soltau (Lüneburger Heide). Mangels ausreichender eigener redaktioneller Ressourcen habe man sich dafür entschieden, aufwändige zeitintensive Recherchen an freiberufliche Journalisten auszulagern. Gezahlt werden 22,40 Euro pro Recherchestunde plus Spesen, zuzüglich 74 Cent pro Zeile für das fertige Stück. Derzeit arbeite man mit drei Profis aus Berlin, Hamburg und Soltau zusammen. Zum Themenspektrum gehören Geschichten über die Ausbildung von Soldaten aus Singapur in der Region, die Teilvernichtung von Assads Chemiewaffen im niedersächsischen Munster, aber auch regionalpolitisch Relevantes wie die Pläne zum Ausbau des Bahnnetzes. Der Berliner Mitarbeiter recherchiere seit längerem an einer Geschichte über einen Immobilienunternehmer aus der Hauptstadt. Trotz 40 abgeschlossener Interviews habe die Recherche bislang noch nicht zu einer Publikation geführt. Dem nicht geringen Erstaunen der Forumsteilnehmer begegnete Jung mit dem Hinweis, der Besitzer der Böhme Zeitung (Verkaufsauflage: knapp 11.000 Ex.) denke „nicht betriebswirtschaftlich, sondern verlegerisch”. Klingt gut, stimmt aber nur halb. Die Beauftragung von Freien mit investigativer Recherche hat sehr wohl auch ökonomische Gründe: „Ein fester Redakteur würde mindestens 60.000 Euro kosten”, räumt Jung ein.
Natürlich kommt Lokaljournalismus nicht immer so spannend daher. Vielfach wird der redaktionelle Alltag beherrscht von der Chronistenpflicht zwischen Vereinsberichten und Stadtratsgeschichten. Junge Leser gewinnen, ohne die Alten zu verprellen – kein leichter Job, klagt Maike Sophie Wessolowski, Leiterin der Lokalredaktion Dillenburg des Herborner Tageblatts. Gerade die Jüngeren hätten immer weniger Lust auf Zeitung – wegen der vielen „Lattenzäune” im Blatt. Nicht alle gehen so weit, Vereinsberichterstattung und Terminjournalismus auszulagern bzw. konsequent zurück zu drängen. Dabei liefert die digitale Entwicklung reichlich Instrumente dafür. 150 Zeilen starke Reiseberichte von Leserreportern in Ich-Form – wer will so was lesen? Kein Mensch, fand die zuständige Redakteurin eines Lokalblatts im Odenwald. Sie dampfte die länglichen Produkte für die Printversion auf 40 Zeilen ein und stellte die Langfassung nur ins Netz. Beschwerden? Keine. Vielleicht hat’s auch niemand gemerkt. Ein nicht unwichtiges Hindernis für frischeren, modernen Lokaljournalismus ist vielerorts – der FROSCH. Als Frösche bezeichnen Sarkastiker in den Redaktionen Kolleginnen und Kollegen, die bei ihrer Arbeit ein „FReizeitOrientiertes SCHonverhalten an den Tag legen, sprich: sich nicht von jahrzehntelang gepflegten Gewohnheiten trennen wollen. „Klingt garstig”, findet Lokalchefin Wessolowski, „ist aber durchaus vielerorts ein Problem”. In dem von ihr geleiteten Praxisgespräch „Motivation und Kreativität” wurden Strategien ausgeheckt, wie man den lähmenden Alltagstrott von Journalisten in der Provinz in beschwingtere Bahnen lenken könne. Warum nicht mal jungen Kollegen die Chance geben, etwas Neues jenseits von Terminschreibe auszuprobieren, gern auch was Verrücktes? Wie wäre es mit mehr Disziplin, Struktur und Selbstkontrolle, gerade auch beim „Zeitfresser” Redaktionskonferenz? Und wenn schon Vereinsberichterstattung aus Gründen der Leserbindung unerlässlich ist – warum nicht mal statt der üblichen Chronik den Blick auf einen originellen Aspekt schärfen? „Die Mitarbeiter müssen innerlich brennen?” Gut gebrüllt – aber diese dann doch bitte auch entsprechend qualifizieren und angemessen bezahlen!
Abschließend wurde in Bayreuth um die „aktuelle Relevanz” des Lokaljournalismus gestritten. Kleinster gemeinsamer Nenner: Alle wollen „mutige Lokalzeitungen”, solche, die hartnäckig und kritisch berichten. Was relevant sei, entscheide aber nicht zuletzt der Leser. Darauf müssen sich auch die Lokalmonopolisten in der Provinz einstellen. „Früher hat man nervende Leser mit 14 Tagen Aboentzug bestraft”, sagte Michael Rümmele vom Nordbayerischen Kurier vor einem amüsierten Forum. Diese Zeiten sind allerdings definitiv vorbei.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

KI beinflusst Vielfalt in den Medien

Künstliche Intelligenz kann journalistische Texte in verschiedene Sprachen übersetzen und damit viel mehr Nutzer*innen ansprechen. Gleichzeitig kann sie aber auch Stereotype, die in diesen Texten enthalten sind, verfestigen. Gefahren und Chancen von KI-Anwendungen im Journalismus standen im Fokus der diesjährigen NxMedienkonferenz der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM), die sich für mehr Vielfalt in den Medien einsetzen.
mehr »

Fakten for Future

Menschen jeden Alters machen sich Sorgen um die Zukunft unseres Planeten. Carla Reemtsma ist Klimaschutzaktivistin und Mitorganisatorin des Schulstreiks Fridays for Future („Klimastreik“) in Deutschland. Als Sprecherin vertritt sie die Bewegung auch in der medialen Öffentlichkeit. Wir sprachen mit ihr über Kommunikationsstrategien, Aktivismus und guten Journalismus.
mehr »

Öffentlichkeit ohne Journalismus

Schwindende Titel, schrumpfende Redaktionen, immer geringere Abonnentenzahlen – dass gerade der Lokaljournalismus vielerorts unter Druck steht, ist nicht neu. Doch was bedeutet das für die lokale Öffentlichkeit, die inzwischen von vielen selbstbewussten Medien-Akteuren mitgestaltet wird? Eine aktuelle Studie der Otto-Brenner-Stiftung beschäftigt sich mit genau dieser Frage.
mehr »

Die Medienwende nach dem Mauerfall

35 Jahre nach dem Mauerfall bietet die Medienlandschaft im Osten Deutschlands ein zwiespältiges Bild. Nach wie vor verlieren die von westdeutschen Großverlagen kontrollierten ehemaligen DDR-Traditionstitel überdurchschnittlich an Auflage und Anzeigenvolumen. Der aufgelöste staatliche DDR-Rundfunk ist nach anfänglichem Hickhack erfolgreich in ARD und ZDF integriert. Gescheitert ist indes früh der Traum der Ex-Bürgerrechtler von einem „Dritten“ Medienweg.
mehr »