Grenzen der Berichterstattung – Soll es die geben?

Ethische Aspekte zu möglichen Grenzen der Berichterstattung

I. Ist- Stand

Vor allem durch die Katastrophen- und Verbrechensberichterstattung der vergangenen Jahre ist der Journalismus – wenigstens eine Art des Journalismus – ins Gerede gekommen. Stichwort wie Borken (Grubenunglück) und Gladbeck (Geiseldrama) sind noch grob im Bewußtsein.

In Borken waren einige hundert Polizisten damit beschäftigt, die herbeigeeilten Angehörigen der verunglückten Kumpels von der Bild- und O-Ton-hungrigen Journalistenschar abzuschirmen und die Turnhalle, in der die Toten schließlich aufgebahrt waren, zu sichern. Noch für die Beerdigung Tage später war ein umfangreiches Polzeiaufgebot notwendig. Ein Journalist bot einem Beamten Geld an mit der Bitte, einen der Toten exklusiv abzulichten. Andere schlüpften in Arztkittel und Feuerwehruniformen. Besonders rabiate Kollegen brachen sogar in eine Wohnung ein.

Zwei Ergebnisse, die die ganze Ambivalenz journalistischer Berichterstattung heutzutage dokumentieren, seien genannt. Zum einen wurde die Polizei und die Hilfskräfte durch Journalisten in ihrer Arbeit erheblich behindert, am wirkungsvollsten durch einen Medienvertreter, der einen Hubschrauber gechartert hatte und damit den Funkverkehr am Unglücksort erheblich störte. Zum anderen wurde durch ein Richtmikrophon des Hessischen Rundfunks das Leben von sechs Verschütteten gerettet.

Betroffene haben von rücksichtslosen Recherchiermethoden berichtet. Ein Journalist sagte in Borken vor einer Gruppe von Angehörigen der Verunglückten: „Jetzt brauche ich nur eine Leiche und eine weinende Mutter, dann habe ich alles im Kasten!“

In Gladbeck haben sich Kolleginnen und Kollegen – teilweise sehr bereitwillig – zu Komplizen der Täter gemacht. Wer in ein Auto von Entführern steigt, um ein nettes Interview zu führen, macht sich, ob er nun will oder nicht, die Sache der Täter zu Eigen. Für eine Geisel ging es mit der Pistole am Hals um Leben und Tod, für den fotografierenden und interviewenden Kollegen um eine Story und um ein Exklusivbild (siehe Foto rechts).

Der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger sprach angesichts der hier geschilderten Fälle von „Interessenkollisionen zwischen Informationsanspruch des Bürgers und der Verpflichtung der Medien, diesem Anspruch gerecht zu werden“.1

Was hat sich geändert?

Was hat sich geändert, im Journalismus und im System, daß solche Entwicklungen möglich wurden?

Eile – Ende der Recherchiermöglichkeit

Der Faktor Null bei der Zeit führt zu einem Faktor Null bei der Möglichkeit, rückzufragen, abzuklären, das letzte vielleicht entscheidende Telephongespräch zu führen, um der Wahrheit den entscheidenden Schritt nahe zu kommen. Der immer stärker werdende Trend, live zu berichten, trägt zu dieser Entwicklung bei. Bei Auslandsberichten wird nicht auf ein (sicher kostspieliges Korrespondentennetz) zurückgegriffen, sondern auf Reporter, die rasch einfliegen und „vor Ort“ berichten – oft ohne Hintergründe, kulturelle Kenntnis des Landes, historischen Überblick.

Quote

Quote ist relevant für die Kasse und für das Erfolgserlebnis. Wie reagieren bei Live-Geschichten, bei Live-Bildern, die angeboten werden? Gladbeck, die Hitlertagebücher, die Erfahrung mit Bilderfälschern haben gezeigt, daß der Quotendruck nicht nur die Qualität zu mindern vermag, sondern auch anfällig macht für durchschaubare Lügen. Als das ZDF in Gladbeck vom abfahrenden Gangsterauto live berichtete, hat der Moderator des Heute-Journals nicht gewußt, was da eigentlich gerade über den Sender geht. Sitzen da die Geiseln drin? Ist die Situation bedrohlich? Ist das ein Auto der Polizei, ist die Geiselnahme jetzt vorbei? Aber vorsichtshalber (und eben aus Konkurrenzdruck) wurde einfach draufgehalten und die Bilder in die Haushalte geschickt. Der Aktualitätsdruck ist derart groß geworden, daß vor allem in Hörfunk und Fernsehen Journalisten sich dem Problem der Gleichzeitigkeit von Geschehen und Berichten ausgesetzt sehen. Was passiert, wird sofort berichtet. Für das ZDF wird das jedenfalls so nicht mehr passieren, glaubt man jedenfalls den danach veröffentlichten „Zehn Grundregeln für die Berichterstattung über Gewalt und Katastrophen“.2

Geld –

Das bedarf keiner Ausführungen!

Gewisse Abgebrühtheit

Der Konkurrenzdruck ist teilweise so groß, daß mitunter normalste menschliche Reaktionen bei Journalisten ausfallen. In Katastrophenfällen einfach mitleiden zu können, auch wirklich fassungslos zu sein.

Bei Flugzeugunglücken kann es passieren, daß auf dem Flughafen, auf dem das Flugzeug hätte ankommen sollen und die Verwandten und Freunde (vergeblich) warten, die Kunde vom Absturz von Journalisten verbreitet wird – verbunden mit laufenden Kameras und offenen Mikrophonen. „Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen? Jetzt sagen Sie doch schon was!“ – Ein Journalist nannte sein Verhalten „Schockroutine“.

Distanzverlust/ Verlust an Nähe

Es gibt einen zumindest tendenziell beobachteten Wandel im Selbstverständnis von Journalisten von einem neutral und objektiv, den Ereignissen passiv distanziert gegenüberstehenden, zu einem aktiv beeinflussenden, sofort stellungnehmenden Journalismus. Distanzverlust lautet dafür das Schlagwort. Es gibt aber gleichzeitig eine Art „Verlust an Nähe“ durch unterlassene Recherche, nicht vorhandene Nähe zur Sache, mangelnde inhaltliche Fundierung in Berichten und Kommentaren. Die Konsequenz ist natürlich Oberflächlichkeit, eine unnötige Boulvarisierung von Sachthemen.

II. Ethik-Bedarf und Ethik- Theorien

In der Journalismus-Forschung – dort einschlägig vor allem von Siegfried Weischenberg – wird versucht, journalistische Spielregeln zu benennen und systematisch auszubauen. Heute werden im Groben drei Ethik-Theorien diskutiert.

Journalistische Individual-Ethik

Hier wird vom einzelnen Journalisten ein hohes Maß an Ethik, Moral und Verantwortung erwartet. Auf ihn kommt es an. Er handelt im Grunde allein, auf eigene ethische Rechnung. Der Journalist muß Spannungen allein aushalten – zum Beispiel im Beziehungsgeflecht zu Politikern. Im Konfliktfall fällt ein Einzelner um – oder er wird zum Helden, zum Heroen. Da zu letzterem nicht alle geeignet sind (wir wir wissen), kommt diese Individual-Ethik relativ schnell an ihre Grenzen.

Der Ansatz der Mediensystem-Ethik

Dieser Ansatz lehnt eineindi-vidualethische Betrachtungab.3 Die Annahme, Journalismus sei allein an Personen festzumachen, wird als unzulässige Verkürzung der Ethik-Diskussion betrachtet. Vielmehr sei der Journalist als Person mit zugewiesenen Arbeits- und Berufsrollen in ein größeres System eingebunden, von dem er abhängig ist. Zu diesem System gehörten die äußeren, relativ abstrakten Strukturen des Mediengesamtsystems, die konkrete Medienorganisation, in der der Journalist arbeitet.

Dieser Ansatz sieht natürlich vieles richtig. Problematisch wird das natürlich, wenn der Hinweis auf das System dazu führt, sich davonzustehlen, sich herauszureden und somit Aktionen, Veröffentlichungen zu rechtfertigen, die nicht mehr zu rechtfertigen sind. Und nicht zuletzt bleibt bei all diesen Systemen und Umwelten dennoch der einzelne Journalist als Mensch, der sich entscheiden kann und sich verantworten kann.

Journalismus und Publikumsethik

Der Hinweis auf die Verantwortung des Publikums im Prozeß der Massenkommunikation ist ja nicht neu. Jahrzehntelange Versuche, durch Medienpädagogik die Mediennutzer zu erziehen, blieben – wenn mein Eindruck nicht täuscht – relativ erfolglos. Das Publikum nutzt, kauft und fördert so einen bestimmten Journalismus. Wie erfolgreich ein solches Publikumsverhalten in der Praxis ist, sei dahingestellt. Wichtig bleibt, das die Rezipienten bei einer ethischen Betrachtung des Journalismus nicht außen vor bleiben dürfen.

III. Einige Plädoyers

1. Plädoyer für eine neue Langsamkeit im Journalismus
Schnelligkeit sieht – wie bekannt – nur den Täter, nicht das Opfer. Schnelle Journalisten stehen in der Gefahr, zu Komplizen der Täter zu werden auf Kosten der Hinterbliebenen, der Opfer und der Toten.

2. Plädoyer für eine kollektive Behutsamkeit
Dieses Plädoyer steht in engem Zusammenhang mit Plädoyer numero 1. Die Behutsamkeit beginnt bei der Sprache. Behutsamkeit lenkt den Blick auf die, die die Zeche bezahlen, ohne die Rechnung je gesehen zu haben. Berichte und Reportagen über die Verlierer in Sport, Politik, gehören daher auch zu den schönsten, den wichtigsten journalistischen Produkten – einfühlsam, menschlich und oft auch zur Solidarität aufrufend, Solidarität ermöglichend.

3. Plädoyer für das Dementi ohne die vorherige Falsch-Behauptung
Das Plädoyer für das Dementi ohne vorherige Falsch-Behauptung verhindert, daß Journalisten vom Nachrichten zum Hinrichten abrutschen, Journalismus zum Hinrichtungs-Journalismus verkommt.

4. Plädoyer für Ehrlichkeit
Ich höre viele Kollegen in strittigen Augenblicken sagen, das Foto sein „ein Dokument der Zeitgeschichte“. Wenn das zum entscheidenden Argument wird, dann bleibt zu fragen, ob denn überhaupt ein Vorgang denkbar ist, der nicht als Dokument verwendet werden könnte. Barschel-Fotos? Kohl in Badehose? Lady Di mit neuem Freund und nun „zu Tode gehetzt“?

5. Plädoyer für eine Trennung von Journalismus und Unterhaltung
Damit ist kein ästhetisches Problem benannt. Nachrichten sollen und müssen ansprechend präsentiert werden – schriftlich wie in Hörfunk und Fernsehen. Ich plädiere hier für einen Journalismus, der sich gegen Inszenierungen wehrt, der zu unterschieden weiß zwischen Fakten und Fiktion. Über Attentate und Opfer muß berichtet werden – aber dabei neue Opfer produzieren? Ich sage das in Kenntnis der Tatsache, daß Gewalt ein Mittel des Entertainment ist. Aber warum Spiel-Szenen, nachgestellte Vergewaltigungen, Abstürze, Feuer-Katastrophen? Wird damit nicht Leid und Schmerz durch uns Journalisten beliebig wiederholbar gemacht, reproduzierbar auf Knopfdruck und damit das Opfer ein zweitesmal beleidigt, getötet?

6. Plädoyer für die Verteidigung der Öffentlichkeit und der Intimität
Heute wird beides instrumentalisiert – die Öffentlichkeit wie die Intimität. Ich will beide Bereiche verteidigen, und zwar in einem Regel-System von Journalismus, Medien-Organisationen und dem, was an Publikum und Rezipienten benennbar wird. Das Recht auf Öffentlichkeit und Intimität sind keine absoluten Werte. Sie sind angreifbar, wenn vertuscht und verschleiert werden soll. Die jeweilige Verletzung des Rechtes auf Öffentlichkeit und Intimität müssen diskutiert werden, benennbar sein – wenn irgendmöglich öffentlich und durchschaubar.

7. Plädoyer für einen menschlichen Journalismus bzw. einen Journalismus durch Menschen für Menschen
Ich plädiere für einen Journalismus, der sich seiner Wurzeln besinnt, die in der Aufklärung und in der Verteidigung von Menschenrechten liegen. Ich plädiere für einen Journalismus, der sich selbst zu relativieren vermag und eigene Grenzen, Fehler benennt und sich einzugesteht – am besten vor der nächsten Medien-Katastrophe! l


  •  Referat des Journalisten und Medienethikers U. Beck auf dem 8. LandesjournalistInnentag der FG Journalismus (dju/ SWJU) in Baden-Württemberg am 12. Juli 1997 in Ulm, vom Autor aktualisiert.

 

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