Arbeitszeitverkürzung gegen wachsenden Stellenabbau
Seit Jahren müssen wir zur Kenntnis nehmen, das immer mehr Arbeitsplätze ersatzlos gestrichen werden, ein Prozess, der unaufhaltsam zu sein scheint. Nur ein offensiver Kampf um weitere Arbeitszeitverkürzungen, kann verhindern, dass die Zahl der Arbeitslosen weiter anwächst. Hier sind die Gewerkschaften gefragt.
Einer Studie zufolge, die im November 2003 von der Aliance Capital Management veröffentlicht wurde, sind zwischen 1995 und 2002 weltweit rund 32 Millionen Jobs in der Herstellung vernichtet worden. Die Beschäftigungsrate im herstellenden Gewerbe ist jedes Jahr und in jeder Region der Erde gesunken. Dieser Arbeitsplatzabbau ereignete sich in einem Zeitraum, in dem die Produktivität in der Herstellung um 4,3 Prozent und die weltweite industrielle Produktion sogar um mehr als 30 Prozent gewachsen ist. Falls das gegenwärtige Tempo des Arbeitsplatzabbaus anhält, wird die weltweite Beschäftigung in der Herstellung von derzeit 163 Millionen Jobs auf nur noch ein paar Millionen bis 2040 absinken, was praktisch die Ära der massenhaften Fabrikarbeit auf der ganzen Welt beenden wird.
Aber auch bei Angestellten und im Dienstleistungssektor sind ähnlich hohe Verluste an Arbeitsplätzen zu verzeichnen. So erwarten Experten, dass sich der Abbau der Angestellten-Jobs dem der Fabrikarbeitsplätze im Laufe der kommenden vier Jahrzehnte anpassen werde. Genau wie beim Herstellungssektor sei auch bei den intelligenten Technologien ein Abbau der Angestellten und des Servicepersonals auf einen Bruchteil ihres gegenwärtigen Umfanges zu erwarten. Immer mehr körperliche und geistige Tätigkeiten, von einfachsten Handreichungen bis zu anspruchsvollster konzeptioneller Arbeit, würden im 21. Jahrhundert von billigeren und leistungsfähigeren Maschinen übernommen, heißt es. In der Mitte des 21. Jahrhunderts werde die Welt des Handels die technologischen Mittel und die organisatorischen Fähigkeiten besitzen, Güter und Dienstleistungen einer wachsenden Menschheit zur Verfügung zu stellen, indem sie nur einen Bruchteil der jetzigen Arbeitnehmerschaft beschäftigt. Die intelligente Technologie wird die Arbeitskraft der Zukunft sein.
Zeit statt Geld
Wie verhalten sich die Gewerkschaften angesichts dieses gesellschaftssprengenden Bedrohungspotentials? Ihre Zukunftsfähigkeit wird ganz entscheidend davon abhängen, welche Antworten sie zur Lösung dieses alles überragenden Problems finden werden. Bis Mitte der achtziger Jahre wurde der Produktivitätsfortschritt – den wir zu gewärtigen haben, solange es menschlichen Forschergeist geben wird – durch die einzig mögliche arbeitsplatzerhaltende Maßnahme begleitet: durch Arbeitszeitverkürzung. In Deutschland beispielsweise von ca. 48 Wochenstunden nach Kriegsende auf ca. 38,5 Wochenstunden Ende der 80-er Jahre. Im übrigen kann man diesen Prozess auch in die fernere Vergangenheit zurückverfolgen, je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto länger mussten die Menschen arbeiten, um ihr tägliches Überleben zu sichern.
Der Produktivitätsfortschritt, der die heutigen kurzen Arbeitszeiten erst ermöglicht hat, erzwingt weitere Arbeitszeitverkürzungen oder er wird ein Heer von Arbeitslosen schaffen.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen fordere ich innerhalb meiner Gewerkschaft seit Jahren den Kampf um weitere Arbeitszeitverkürzungen offensiv zu führen.
Im Frühjahr 2004 wurde ich von der ver.di Bundestarifkommission für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland gebeten, einen Vorschlag für eine Forderung für die 2005 anstehende Gehaltstarifrunde zu entwickeln. Getreu meiner Überzeugung, dass der gesamte zur Verfügung stehende Verteilungsspielraum ausschließlich zur Arbeitszeitverkürzung genutzt werden muss, habe ich einem alten „IG-Medien-Slogan“ folgend eine „Zeit statt Geld“-Forderung entwickelt. Um auch endlich die Fesselung durch die Vorgaben der Tarifabschlüsse des öffentlichen Dienstes aufbrechen zu können, habe ich einen zeitlichen Rahmen angepeilt, der die Abschlussdauer der Gehaltstarifverträge im öffentlichen Dienst überschreitet.
Heftige Auseinandersetzungen
Mein Vorschlag für die Gehaltstarifrunde 2005 für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland lautet: Keine Einkommensveränderung innerhalb der laufenden Gebührenperiode (also bis 2009) bei deutlicher Absenkung der Arbeitszeit.
Wie nicht anders zu erwarten, gab und gibt es heftige Auseinandersetzungen zwischen und innerhalb der Verbände bezüglich dieser Forderung. Es hat jedoch den Anschein, als nähme die Zahl der Kritiker meines Vorschlages ab, vermutlich aufgrund der Erkenntnis, dass der tradierte Weg der Gehaltstarifforderungen in eine Sackgasse führt und die Erosion der Gewerkschaften beschleunigen würde. Mangels Alternativen nähert man sich zögerlich diesem Vorschlag an.
In seiner Sitzung am 12. und 13. April 2005 in Berlin hat der Tarifausschuss für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (örR) nach heftigsten Debatten einstimmig folgenden Beschluss zur Tarifrunde 2005 gefasst:
Vorrang in der bevorstehenden Tarifrunde hat die Beschäftigungssicherung für Angestellte und Freie.
Für eine Laufzeit von zwölf Monaten fordern die Tarifausschüsse örR und Freie ein Abschlussvolumen von zwei Prozent mit realer Wirksamkeit auch für Freie. Soziale Komponenten sind möglich.
Langfristige Abschlüsse zur Arbeitszeitverkürzung für Angestellte (max. laufende Gebührenperiode) und entsprechend beschäftigungssichernde Vereinbarungen für Freie sind möglich.
Tarifklausur im Herbst
Die Tarifausschüsse örR und Freie haben das Ziel, langfristig wirkende tarifpolitische Lösungen zur Stabilisierung der qualifizierten Beschäftigung (Angestellte und Freie) und des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems insgesamt zu vereinbaren. Bis zum Herbst 2005 soll eine Tarifklausur durchgeführt werden, die strukturelle Forderungen und ihre Umsetzung, einschließlich möglicher Sondierungsgespräche mit ARD und ZDF über die künftigen Arbeits- und Einkommensbedingungen im örR vorbereitet. Themenfelder sind unter anderem: Arbeitszeitvolumen und -modelle, Sicherung der Beschäftigung von Festen und Freien, Eigenproduktionsfähigkeit / Outsourcingpolitik, Vergütungs- und Honorarsystem.
Zur Erzielung der Einstimmigkeit war kein konkreterer Beschluss möglich. Dennoch eröffnet das Ergebnis den Verbänden die Möglichkeit, Forderungen sowohl nach dem tradierten Verfahren zu erarbeiten, als auch der Überlegung „Zeit statt Geld“ zu folgen und längerfristige Tarifforderungen (maximal eine Gebührenperiode) entsprechend meines Vorschlages umzusetzen.
Der erste Satz der Beschlusslage weist jedoch auf die Bedeutung hin, die die Beschäftigungssicherung in dieser und in den kommenden Tarifrunden haben wird.
Der Autor ist seit 1975 beim NDR angestellt. Seit Beginn der 80er Jahre im Verbandsvorstand (RFFU, später IG-Medien). Seit Mitte der 90er Jahre im geschäftsführenden Verbandsvorstand (IG-Medien, jetzt ver.di)
Unter www.rundfunkfreiheit.de/tarifpolitik befinden sich mehrere Beiträge zum Thema Arbeitszeitverkürzung von ihm.