Hearing des Deutschen Presserats: Einzelner Tropfen verantwortlich für das Nasswerden?
Gewaltfotos mit grausamen Detailaufnahmen, schmerzverzerrten Gesichtern, abgetrennten Köpfen sind in Zeitungen und Zeitschriften schon lange kein Tabu mehr. Zunehmend beschäftigen sie den Deutschen Presserat. Zu einer Diskussion über die Bewertung solcher Fotos lud das Selbstregulierungs-Gremium Ende September Wissenschaftler, Jugendschutzexperten, Journalistinnen und Journalisten nach Bonn ein.
Die Problemstellung: „Presseethik zwischen Jugendschutz und Pressefreiheit“ bei Fotoveröffentlichungen hatte der deutsche Presserat nicht von ungefähr gewählt. Einige seiner Entscheidungen in Bezug auf Gewaltfotos waren von Redaktionen als „nicht nachvollziehbar“ kritisiert worden. Somit stand die Frage: Sind die Kriterien des Deutschen Presserats fixiert im Pressekodex ausreichend? Oder sind sie „kryptisch“ und dringend überarbeitungsbedürftig, wie Nicolaus Fest, Mitglied der Bild-Chefredaktion, behauptete.
Genaue Einzelfallprüfung
Der Fotograf sei das „Auge vor Ort“, eine „Art Dienstleister“. Er müsse alles in Bilder fassen, was um ihn herum geschehe und es seinem Auftraggeber liefern. Alles weitere liege nicht mehr in seinem Ermessen, so die Fotografin Gaby Sommer. Seit 25 Jahren im Beruf hat sie nach zehn Jahren der aktuellen Nachrichtenfotografie unter anderem für AP und Reuters „genug von Leichen, Trauernden und Blut“ und spezialisiert sich seitdem auf Porträts und Wirtschaftsthemen. Die Verantwortung, welches Bild aus der Fülle der zur Verfügung stehenden Fotos abgedruckt wird, liege in der Redaktion. Dabei seien „Diskussionen über die Bildauswahl durchaus auf der Tagesordnung“, weiß die Fotografin. Und in den Nachrichtenagenturen würden einige schockierende Fotos gar nicht erst an Kunden weitergegeben.
Kölner Express-Chefredakteur Rudolf Kreitz stellte unumwunden die Frage nach dem Motiv für eine Veröffentlichung in den Vordergrund. Will man aufrütteln; den Finger in die Wunde legen, um Schlimmeres zu verhindern oder einfach nur die Sensationsgier der Leser befriedigen, um Auflage zu machen? Er bestätigt, dass auch er keine Entscheidung ganz allein fälle und die Auswahl nie leicht sei. Zu unterschiedlich seien die Wahrnehmungen und die Befindlichkeiten. „Nur eine genaue Einzelfallprüfung kann einen seriösen Umgang mit diesem Thema garantieren.“ Im Kölner Express gebe es die Regel, keine Leichen zu zeigen. Und doch sei dies bei den schrecklichen Anschlägen mit Hunderten von Toten immer wieder in Frage gestellt und debattiert worden. „Muss man nicht doch solche Fotos zeigen, damit das Unfassbare für die Menschen sichtbar wird? Dennoch, bisher verzichten wir darauf“, so Kreitz.
Pressekodex wenig hilfreich
Bild-Vertreter Nicolaus Fest stellt in den Mittelpunkt der Abwägungen bei der Fotoauswahl den „Informations- und Verdichtungsgehalt“ eines Fotos. „Das Foto muss also entweder Beleg für einen bisher unbekannten Aspekt sein oder einen Sachverhalt auf den Punkt bringen.“ Kriterien aus dem Pressekodex, wonach auf „unangemessene sensationelle Darstellung“ verzichtet werden solle, wenn der Mensch zum bloßen Opfer und Mittel herabgewürdigt werde, seien da wenig hilfreich. Schließlich seien die Menschen auf vielen Kriegs- und Greuelfotos ohnehin „nur Objekt“. Ebenso wenig helfe die Regel, dass das Opfer durch die Darstellung nicht erneut Opfer werden dürfe und, dass auf die Gefühle der Angehörigen Rücksicht zu nehmen sei. „Ginge es danach, ließe sich so gut wie kein Foto eines Unglücksfalls oder Verbrechens veröffentlichen“, sagte Fest.
Die Würde des Opfers zu achten, wäre für Norbert Schneider, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW, durchaus Kriterium, „einmal das schwächere Bild zu veröffentlichen“. Auch der Gezeigte müsse geschützt werden, vor allem, weil er sich gegen den zudringlichen Blick nicht mehr zur Wehr setzen könne. Schneider mahnt zur Vorsicht bei Abbildungen, die Grausamkeiten direkt zeigen. Ein solches Bild informiere nicht nur, sondern es könne dazu führen, dass „der Betrachter die Grausamkeit genießt, dass er als Voyeur adressiert wird“.
Diffuse Ängste bleiben
„Aus verschiedenen Studien wissen wir“, so Joachim von Gottberg, Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), „dass Bilder realer Ereignisse auf Kinder und Jugendliche sehr viel stärker wirken als vergleichbare Darstellungen in fiktionalen Filmen.“ Vor allem Kindern gelinge hier keine Distanzierung. Auch für Jugendliche sind solche Bilder schwer erträglich. Umfragen zufolge wollen sie solche Darstellungen lieber nicht sehen. Und obwohl über konkrete psychische Schocks von Kindern als Folge solcher Bilder nichts bekannt ist, sei „zu befürchten, dass diffuse Ängste bleiben, die den Blick auf die Welt prägen können“. Auszuschließen sei ebenfalls nicht, dass durch derartige Gewaltfotos bei Kindern und Jugendlichen eine Befürwortung von Gewalt entstehen könne.
Gegenüber solchen Überlegungen des Jugendschutzes sieht Gottberg dennoch die Notwendigkeit von Presse- und Informationsfreiheit. „Krieg, Verbrechen und Terrorismus dürfen nicht durch das Aussparen von Opferbildern verharmlost werden, auch nicht mit Rücksicht auf den Jugendschutz“, meint Gottberg. Dennoch müsse es Grenzen geben. Ohne Pressekodex und das Risiko von Sanktionen sehe er die Gefahr „einer Inflation von Darstellungen grausamer Realitäten“. Aus dem Auditorium wurde in diesem Zusammenhang die Frage der Platzierung und der Größe eines Gewaltbildes aufgeworfen. Muss es immer die Seite 1 einer Zeitung sein, die auch plakativ an den Kiosken für jeden – also auch für Kinder und Jugendliche auf dem Schulweg – sichtbar ist? Erwachsene, die eines der Blätter dann bewusst kaufen, erhalten diese Information dann auf den Innenseiten.
Einerseits sei es gut zu überlegen, der Presse Einschränkungen aufzuerlegen, andererseits gibt es genügend Ansätze, „nicht jede Art von Berichterstattung unter dem Stichwort Pressefreiheit gut zu heißen“, so Hans-Bernd Brosius, Professor am Institut für Kommuniktionswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bilder über Auswirkungen von Gewaltanwendung seien Brosius zufolge weder prinzipiell zu verdammen, noch zu verharmlosen. „Ihre Beurteilung muss differenziert erfolgen“ Den Sachverhalt des Voyerismus, der aufdringlichen Darstellung menschlichen Leidens, sieht der Münchener dann mitunter erfüllt, wenn das Bild in keinem weiteren Kontext für sich steht.
Würden in einem dazugehörigen Text Hintergründe geliefert, Ursachen und Konsequenzen dargestellt, sei das gleiche Bild eher akzeptabel. Gewaltbilder hätten in den Medien auch dann eine Berechtigung, wenn sie aufrütteln und gesamtgesellschaftliche Relevanz besitzen. Demzufolge seien Anlass bzw. Thema der Berichterstattung ein wesentlicher Aspekt. „Mit einem Foto von den Folgen eines Krieges, kann man eindringlich vor Krieg warnen und damit den politischen Meinungsbildungsprozess einer Gesellschaft fördern. Aber was kann der Leser aus Gewaltbildern eines Unfalls lernen? Dass man vorsichtiger Autofahren soll?“ Hier sei die gesamtgesellschaftliche Relevanz viel weniger zu erkennen.
Ethik und Geschmack
Letztlich sei es fraglich, so Brosius, ob Gewaltbilder rein nach ihrer Wirkung zu beurteilen sind – Desorientierungen, Angstzuständen, Abstumpfungen oder ähnlichem – oder ob auch Fragen der gesellschaftlichen Ethik und des guten Geschmacks eine Rolle spielen sollten. „Mediale Wirkungen sind in der Regel kumulativ, die konkrete Beurteilung muss sich aber für den Presserat immer am Einzelfall orientieren. Überspitzt könnte man fragen, ob man einzelne Regentropfen dafür verantwortlich machen kann, das man bei einem Schauer nass wird“, so dass Fazit von Brosius.
Fazit: Patentrezepte gibt es nicht, jeden Tag muss in den Medienhäusern aufs neue abgewogen werden, welches Foto gedruckt werden soll. Der Pressekodex kann dabei durchaus eine Orientierung sein und der Presserat wird nicht umhin kommen auf Basis des Pressekodexes jeden vorliegenden Beschwerdefall neu zu entscheiden.