Wenn es um eine „Filmstadt“ geht, denkt man an Berlin, München, Hamburg, vielleicht noch Köln. Aber Bielefeld? Jene Stadt, die Berühmtheit erlangte, weil es sie angeblich gar nicht gibt? Eine Sonderausstellung im Historischen Museum der ostwestfälischen Metropole hält nun diesbezüglich unter dem Titel „Die große Illusion“ bis zum 25. April 2021 einige Überraschungen bereit.
Etwa die, dass einer der bedeutendsten Stummfilmregisseure, Friedrich Wilhelm Murnau, und der Toningenieur Joseph Massolle, der maßgeblich an der Entwicklung des ersten produktionsreifen Licht-Tonfilmverfahrens beteiligt war, in Bielefeld geboren wurden. Weitgehend unbekannt dürfte auch sein, dass die Kinokultur in dieser Region bereits 1896 begann und in der Nachkriegszeit so lebendig wie kaum irgendwo sonst in Deutschland war. Hildegard Knef, Gary Cooper und viele andere Stars der damaligen Zeit kamen zu Filmpremieren nach Bielefeld.
Die Ausstellung ist keine trockene Historienschau, sie führt die Besucher*innen in längst vergangene Zeiten zurück. So steht im Eingangsbereich das originale Kassenhäuschen aus dem legendären Kino Atrium und erinnert daran, wie man einst seine Abreiß-Karten kaufte. Ein riesiges Foto, das den Kinosaal des Capitol-Kinos zeigt, eine Wand mit sehr vielen Kinoplakaten und ein Foyer mit Tischen und Stühlen schaffen Kino-Atmosphäre. Fünf verschiedene Themenkomplexe – Technik, Menschen, Murnau und Massolle, Kulturgeschichte und Kinos in Bielefeld – beleuchten die Entwicklung der Filmkunst vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.
Fotos, Textdokumente, neu gedrehte Filme und Archivmaterial erzählen u.a. von den insgesamt 47 Kinos, die es einmal in Bielefeld und Umgebung gab. Wie haben sich die Lichtspielhäuser im Lauf der Zeit verändert? Wie prägten sie das Stadtbild und das gesellschaftliche Leben? Diesen und anderen Fragen spürt die umfangreiche Ausstellung nach. Nicht zuletzt geht es um die Menschen, die das Kino zum Leben erwecken. Vermeintliche „Randfiguren“ wie der Empfangsportier, die Platzanweiserin, der Filmvorführer, die Filmplakatmalerin und die Kinobetreiber*innen selbst bekommen hier ein Gesicht.
Bielefelds berühmte Söhne Murnau und Massolle stehen natürlich im Mittelpunkt. Murnau wurde 1888 geboren, ein Jahr vor Massolle. Der Sohn eines wohlhabenden Tuchfabrikanten zog allerdings schon im Alter von vier Jahren mit seiner Familie nach Kassel und ging als junger Mann zunächst nach Berlin und später in die USA. Massolle verlor früh seine Eltern und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Da ein teures Studium nicht in Betracht kam, verdingte er sich als Funker bei der Marine und bildete sich autodidaktisch zum Ingenieur weiter. Auch ihn zog es nach Berlin, wo er später lange für die Tobis Film tätig war. Zu den Ausstellungsschätzen gehört das Interview mit einem Toningenieur, der noch von Massolle selbst ausgebildet worden war.
Ein genialer Stummfilm-Regisseur der eine, der andere ein hochbegabter Ton-Tüftler. Beide fast gleichalt, beide kinoverrückt, beide aus Bielefeld, beide in Berlin. Eigentlich hätte es genug Gründe für einen Kontakt zwischen Murnau und Massolle gegeben, aber ihre Welten waren wohl zu verschieden. „Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich die beiden gekannt haben“, berichtet Frank Bell, einer der drei Ausstellungsmacher. An ihrem Geburtsort werden nun zumindest ihre Werke zusammengeführt.
Im „Gässchen“, dem Raum zwischen Dauer- und Sonderausstellung, entstand ein Kinosaal mit 35 Stühlen und zwei analogen Filmprojektoren. Hier wie auch im Bielefelder Filmkunsttheater Lichtwerk sollen filmische Raritäten präsentiert werden. Zum Beiprogramm gehören u.a. „Die Nacht gehört uns“, ein Spielfilm mit Hans Albers aus dem Jahr 1929, bei dem Joseph Massolle für die Tontechnik verantwortlich war, sowie „Der Schuss im Tonfilmatelier“ aus dem Jahr 1930 und „Ein Tag auf dem Bauernhof“ aus dem Jahr 1924 . Als Beispiel für die „entfesselte Kamera“ soll „Der letzte Mann“ aus dem Jahr 1924 gezeigt werden.
Murnaus Werk gilt als Meilenstein in der Entwicklung des Films. Sein Kameramann Karl Freund ersetzte bei einem relativ leichten „Stachow-Filmer“ die Kurbel durch eine motorgetriebene Schwungscheibe. Ausbalanciert von Gewichten konnte die Kamera mit Hilfe von (Feuerwehr-)Leitern, Kränen, Rädern, Schienen oder Seilen quasi fliegen. In dem Stummfilm „Der letzte Mann“ wird sie – wie von Murnau gefordert – zum Zeichenstift und erhält eine dramaturgische Funktion. Über- bzw. Unterlegenheit, soziale Stellung und die Gefühle der Protagonist*innen lassen sich durch die „entfesselte Kamera“ aus unterschiedlichen Perspektiven rasch verfolgen und eindringlich darstellen.
Ebenso wie die Kamera hat auch der Ton Funktionen, die weit über das bloße Transportieren des gesprochenen Wortes hinausgehen. Der Ton bestimmt maßgeblich die Atmosphäre eines Films, ist – wie auch die Filmmusik – ein tragendes dramaturgisches Element. Technik schafft Möglichkeiten, aber „Die große Illusion“ entsteht dadurch, wie Technik eigesetzt wird. „Die Verbindung von Technik und Filmkunst ist uns sehr wichtig“, erklärt Bell.
Den ehemaligen Redakteur der „Neuen Westfälischen“ und langjährigen Bezirksvorsitzenden der dju in ver.di und seine Mitstreiter Michael Wiegert-Wegener und Dr. Holger Schettler verbindet seit Schulzeiten die Leidenschaft fürs Kino. Alle drei haben ihr Hobby zum (Neben-)Beruf gemacht. Sie gründeten 1989 die tri-ergon film & werbeagentur gmbH und 2015 die Stiftung Tri-Ergon Filmwerk. Unter demselben Namen hatten sich 1919 die Ingenieure Joseph Massolle, Hans Vogt und der Physiker Dr. Jo Engl zusammengeschlossen. „Das Werk der drei“ erfand die Tri-Ergon-Tonfilmtechnik. In der Ausstellung wird nicht nur ihre Entwicklung, sondern auch die Weiterentwicklung der Tontechnik dokumentiert.
Die Bielefelder Kino-Schau ist ein Herzensprojekt von Bell, Wiegert-Wegener und Schettler. Das rund 300.000 Euro umfassende Budget kam mit Hilfe verschiedener Stiftungen, Sponsoren und Förderer zusammen. Die meisten Ausstellungsstücke und audio-visuellen Beiträge stammen aus dem stiftungseigenen Fundus. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Tri-Ergons umfangreiche Archive aufgebaut und historisch bedeutsames Material gesichert. Im kommenden Jahr müssen für die Einlagerung des Fundus neue Räume gefunden werden. Eine Dauerausstellung oder noch besser ein Science-Center Film und Kino als „Living Museum“ mit allem, was für Medienschaffende und –interessierte erhaltenswert ist, wäre den drei Stiftern das Liebste. Für Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen ist die Arbeit mit analoger Technik sinnvoll, zumal sie jungen Leuten die Möglichkeit eröffnet, eigene Projekte zu verwirklichen. Erste Seminare gab es bereits. Allerdings setzt der Bau eines wissenschaftlichen Zentrums große finanzielle Mittel voraus, die es erst einmal einzuwerben gilt.
Weitere Informationen unter www.tri-ergon-filmwerk.de